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Wie man zur Zielscheibe wird. Collage aus der Ausstellung „Zerstörung der RSG-6“ in der Galerie Exi im dänischen Odense (1963).

© privat/HKW

Ausstellung im HKW: Ausbruch ins Gefängnis

Die letzten Revolutionäre: Das Haus der Kulturen der Welt widmet der Situationistischen Internationale eine Ausstellung.

Von Gregor Dotzauer

Revolutionen landen aus unterschiedlichen Gründen im Museum. Die Französische Revolution zum Beispiel gehört, bürgerlich gezähmt, mit all ihren jakobinischen Verirrungen zu den selbstverständlichen Bezugspunkten moderner Demokratien. Die russische Oktoberrevolution hat ein ganzes Jahrhundert weltgeschichtlich umgewälzt. Die deutsche Novemberrevolution hat die Weimarer Republik geboren – und das revolutionäre Jahr 1968 den westlichen Nachkriegsgesellschaften einen Modernisierungsschub verpasst. Im Guten wie im Bösen sind diese Revolutionen aber so weit abgeschlossen, dass man sie historisch einordnen kann. Sie sind Teil einer Geschichtspolitik, die je nach Perspektive das Vorbildliche oder das Abschreckende betont.

Die Situationisten aber sind mit ihren Zielen auf der Strecke geblieben, obwohl sie einen wesentlichen Anteil am wilden Pariser Mai 1968 hatten. Der Sturmlauf gegen eine konsumistische „Gesellschaft des Spektakels“, wie sie Guy Debord, der Kopf der Bewegung, in seinem gleichnamigen Hauptwerk attackierte, ist unerledigt. Was bedeutet es also, wenn sich das Basler Museum Tinguely und das Schweizer Architekturmuseum schon 2007 auf die Spur dieser anarchistischen Gruppierung begaben? Ist es ein Zeichen ihrer politischen Zahnlosigkeit, dass man ihrem als Filmemacher, Schriftsteller und Künstler vielfach begabten Anführer vor fünf Jahren in der Pariser Bibliothèque nationale bedenkenlos eine große Ausstellung unter dem Titel „Un art de guerre“ (Eine Kunst des Krieges) widmete? Und ist das, was nun im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu sehen ist, vielleicht der Sargnagel zu etwas, das vielmehr den Stachel der Gegenwart bilden sollte?

Das HKW, das auch als Denkraum nicht gegen falsche Musealisierung gefeit ist, wenngleich gute Museen immer auch Denkräume sind, gibt darauf eine irritierend ambivalente Antwort. Während Bernd Scherer, der Intendant des Hauses, in einem Miniaturmanifest schreibt, dass die Vergangenheit niemals einfach vergangen sei und Archive die „Laborplätze für neue Zeitentwürfe“ seien, zeigen sich die beiden Kuratoren von „The Most Dangerous Game“ mehr als skeptisch. Wolfgang Scheppe und Roberto Ohrt erklären die Situationistische Internationale, die es von 1957 bis zur Selbstauflösung 1972 auf rund 70 Mitglieder brachte, zu einem Unternehmen, das den Verhältnissen, die es attackierte, letztlich in die Hände spielte.

Sieg der Warenökonomie

Debord und seine Leute mussten nicht nur zusehen, wie ihre „aufrührerisch praktische Kritik an einem ökonomischen Herrschaftsprinzip“, das „Bedürfnisse nicht anders als im Wege des Konsums von Waren“ befriedigt, für immer niedergeschlagen wurde. Aus dem Bemühen, mit Hilfe eines Prinzips von revolutionärer Jugendlichkeit, wie es der Lettrist Isidore Isou propagierte, einem nonkonformistischen Ideal von Individualität zum Sieg zu verhelfen, folgte das genaue Gegenteil. Und die Hoffnung, einen heuchlerischen bürgerlichen Anstand mit offensiver Sexualität zu bekämpfen, die auch Pornografie als befreiend ansieht, zerschlug sich in der hemmungslosen Kommerzialisierung nackter Körper – und einem fragwürdigen Frauenbild.

Beide Diagnosen sind nicht völlig neu. Sie gelten auch für die Geschichte der undogmatischen deutschen Linken. Aber sie gewinnen hier eine Schwärze, die einerseits kiloschwer Beweise zusammenträgt, andererseits die Dialektik im Abschied von der überkommenen Sexualmoral verkennt. Die erotischen Schundromane, die einige Situationisten unter Pseudonym verfassten, opponierten zumindest gegen eine Körperfeindlichkeit, in der zweifellos etwas Repressives liegt. Dass diese Libidoökonomie auch eine handfest finanzielle Seite hatte, wussten die Autoren: Sie unterstützten damit die Bewegung.

Die nach Debords Lieblingsfilm benannte Ausstellung, einem Horror-B-Movie aus dem Jahr 1932, das auf Deutsch „Graf Zaroff – Genie des Bösen“ heißt, unterschätzt durch den Hinweis auf diese strategischen Sackgassen auch die möglichen Anknüpfungspunkte. Denn wenn der Situationismus, der ohnehin weniger als postmarxistische Theorie denn als urbanistische Praxis zu verstehen ist, heute etwas zu bieten hat, dann sind es die spielerischen Techniken, mit denen er der erzwungenen und freiwilligen Totalüberwachung in den großen Städten zu Leibe rückt. Es geht um eine Fantasie des Unnützen, die das Dauertracking der Menschen- und Warenströme unterläuft und deren sich verfestigenden Kartierungen überschreibt. Was da in einer Art permanenter Revolution jeden Tag aufs Neue politisch lebendig werden soll, greift auf die Mittel der künstlerischen Avantgarde zurück. In den Begriffen der Situationisten sind dies unter anderem das Umherschweifen (dérive), die Zweckentfremdung (détournement) und die Wiederinbesitznahme (récuperation).

Die von Filmprojektionen flankierte Ausstellung ist in drei lange Gänge unterteilt. Der erste und materialreichste rekonstruiert die Bibliothek von Silkeborg. Nach einem Konzept von Debord sollte sie Gegenwart und Vorgeschichte des Situationismus bis zurück in die zwanziger Jahre umfassen und die Sammlung des dänischen Malers Asger Jorn ergänzen, dem in Silkeborg bis heute ein eigenes Museum gewidmet ist. Über erste Anläufe hinaus kam es dazu nicht.

Ein Ziegelstein als Dietrich

Das von Wolfgang Scheppe geleitete Arsenale Institute for Politics of Representation in Venedig kaufte die Schriften über Jahre zusammen. So, wie die einschlägigen Bücher, Zeitschriften und Pamphlete nun unter Glas liegen, werden sie leider erst lebendig, wenn man den 900-seitigen Ziegelstein zur Hand nimmt, der die Exponate mit ausführlichen Erläuterungen aufschließt. 400 Seiten davon sind reine Illustration. Doch das restliche, zweifellos kluge und kompetente Bleigewitter dieses wohl dicksten Bandes, den der Merve Verlag jemals publiziert hat, verlangt Besuchern, die nicht wenigstens in Grundzügen mit der in der Hamburger Edition Nautilus erschienenen situationistischen Literatur vertraut sind, ein strapaziöses Lesepensum ab.

Dafür geht es im nächsten Gang schneller. Auf gegenüberliegenden Wänden konfrontiert er Schnappschüsse aus dem Pariser Mai 1968 mit großformatig aufgeblasenen Seiten aus dem Postshop-Magazin des Otto-Versands im selben Jahr. Es stellt die Ikonografie der Rebellion ganz unverfroren in den Dienst der Mode. In der Mitte als Bindeglied Vitrinen voller philosophisch aufgeladener Trash-Publikationen der Situationisten in trauter Einigkeit mit Hochglanzheften wie dem „Playboy“ oder literarisch geadelten, doch schon durch den Umschlag erotisch konnotierten Texten wie Henry Millers Roman „Stille Tage in Clichy“.

Der dritte Gang, aus privaten Sammlungen aufwendig zusammengestellt, stellt die bildnerischen Arbeiten aus der Frühphase vor. Gemälde von Asger Jorn finden sich neben solchen von Heimrad Prem oder Armando – wenn es sich nicht um kollektive Wütereien handelt, die eher an ihrer eigenen Auslöschung interessiert zu sein scheinen, als an einer Geste, die noch irgendetwas vom Betrachter will. Tatsächlich war 1962 Schluss mit der Malerei.

Kunst nach dem Ende der Kunst

Debord plädierte für ein Ende der Kunst, wie sie durch den Begriff des Werkes geprägt ist. Er träumte vom Übergang in eine Sphäre, in der sich die dem Fortschritt stets vorneweg marschierende Avantgarde selbst abschafft und in ihrer eigenen Abwesenheit überlebt. Es sind dies komplexe, in der „Gesellschaft des Spektakels“ entwickelte Gedanken, die Scheppe und Ohrt im Begleitband nicht zum ersten Mal mit dem Denken des Debord ansonsten wesensfremden Theodor W. Adorno verknüpfen.

Dieser Ausstellung mangelt es weder an Gründlichkeit noch an der Bereitschaft, mit ihrem Gegenstand ins Gericht zu gehen. Die Verklärung der Revolte findet nicht statt. Was ihr jedoch fehlt, ist ein didaktisches Konzept, das unterschiedliche Vertiefungsgeschwindigkeiten zulässt. Vielleicht ist es auch einfach ein Stück Mut zu jener Frechheit, die im „Januar-Manifest“ der Münchner Künstlergruppe SPUR unter Artikel neun fordert: „L’art pour l’art ist beendet, ebenso l’art pour l’argent und l’art pour la femme. Jetzt beginnt l’art pour la Gaudi.“ Unter dieser Gaudi gibt es auch eine, die man mit dem größten Ernst betreiben kann.

Haus der Kulturen der Welt, bis 10.12., tgl. außer Di 11–19 Uhr, Mo Eintritt frei. Der begleitende Merve-Band kostet bei Ticket- Vorlage (inkl. kostenlosem Zweitbesuch) nur 2 €.

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