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Schreibt aus eigener Erfahrung. Die Schriftstellerin Stefanie de Velasco.

© Joachim Gern

Stefanie de Velascos „Kein Teil der Welt“: Bei den Zeugen Jehovas aufwachsen

Schleier vor der Welt: Im autofiktionalen Roman „Kein Teil der Welt“ verhandelt die Autorin ihre Jugend mit den Zeugen Jehovas. Über ein Leben in der Lüge.

Als die Welt untergeht, sind die Taschen gepackt. Sie liegen in der obersten Schublade der Kommode im Elternschlafzimmer, daran ein Messingschild mit der Aufschrift „Harmagedon“. In den Taschen: ein Schlafanzug, ein Liederbuch, eine Kerze, Traubenzucker und ein Tütchen mit zwei weißen Pillen, auf dem „Captagon“ steht.

Wer Captagon googelt, landet beim Arzneistoff Fenetyllin und bei Zeitungsartikeln über die „Dschihadisten-Droge“, die im syrischen Bürgerkrieg zum Aufputschen der Milizen verwendet wird. Mehr braucht man für den Weltuntergang nicht.

Das ganze Leben eine Lüge

Harmagedon also. Nach der Offenbarung des Johannes im letzten Buch des Neuen Testaments beschreibt das den finalen Tag auf Erden, an dem Gott seine Entscheidungsschlacht gegen Satan führt. In der Glaubenslehre der Zeugen Jehovas wird Gott dann all jene Menschen vernichten, die nicht „in seiner Wahrheit wandeln“, um schließlich das Paradies zu errichten. Und auf diesen Tag beten die Anhänger seit Gründung dieser religiösen Gemeinschaft 1881 hin. So wie Esther und ihre Eltern in Stefanie de Velascos Roman „Kein Teil der Welt“.

„Sich vorzustellen, dass die Welt untergeht, ist nicht einfach, selbst wenn man damit groß geworden ist“, erklärt die junge Ich-Erzählerin. „Alles erschien mir auf einmal so unwirklich. Das Unwetter, Mama und Papa, nicht mal ich selber fühlte mich mehr echt.“ Wie auch, wenn das ganze Leben eine Lüge ist?

Ein Leben, in dem die Lüge so lange zur Wahrheit gebogen wird, bis sie glaubhaft scheint. In dem das Erdbeben, das sich zur Mitte des Romans ereignet, kein meteorologisches Phänomen ist, sondern der apokalyptische Reiter. Selbst wenn die Apokalypse gar nicht kommt. Dann ist das quasi die Generalprobe, eine Prüfung – das ganze Leben, ein einziger verdammter Test.

Die Autorin Stefanie de Velasco, Jahrgang 1978, kennt dieses Leben. Sie ist in der Sekte aufgewachsen, bis sie im Alter von fünfzehn Jahren ausstieg. Sie beschreibt autofiktional aus Esthers Sicht, wie sich das anfühlt, „kein Teil der Welt“ zu sein: Es gibt nur Entweder, Oder. Welt oder Wahrheit, Weltmenschen oder Verkünder. Statt Aufgeklärtheit gibt es Gebote, die es zu befolgen gilt, Schablonen, durch die Ansichten gepresst werden, und einen nie versiegenden Quell an Bibelzitaten, um weltliche Argumente und Phänomene auszuhebeln, wann immer Zweifel aufkommen.

Wie Gehirnwäsche funktioniert

Evolution? Jehova ist der Schöpfer der Welt. Liebe? Eine Infektion, die dich umbringt (im Gegensatz zur Agape, der Liebe zu Gott). Pumuckl? Ein Kobold, der Dämonen anzieht. „Die Angst vor den Dämonen blieb, sie wuchs und wuchs. Mit den Jahren wurde sie sogar größer, bis sie uns wie ein Kokon umgab, ganzjährig, ein Kokon ohne Saison, durch den wir die Welt wie hinter einem Schleier sahen“, erklärt Esther.

[Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 430 Seiten, 22 €.]

Stefanie de Velasco exerziert in ihrem zweiten Roman durch, wie Gehirnwäsche funktioniert, an Esther – und an Sulamith, der zweiten Protagonistin, die mit ihrer Mutter aus Rumänien nach Deutschland flieht und bei ihrer Ankunft, Anfang der achtziger Jahre, Esthers Mutter in die Arme läuft. „Menschen fischen“, das geht am besten mit solchen, die besonders hilfsbedürftig und damit wehrlos sind.

Esthers Mutter integriert die Flüchtlinge in ihre Gemeinde, Esther und Sulamith werden Freundinnen, die fortan systematisch isoliert und bearbeitet werden, der Welt entzogen, nur um sie als Missionarsmaschinen wieder auf sie loszulassen, wenn sie im Biologieunterricht an ihre Mitschüler Schöpfungsbücher oder vor dem Supermarkt Traktate verteilen. Esther hinterfragt all das nicht.

Sulamith schon. Und zwar immer vehementer, je stärker der Hormonhaushalt Richtung Pubertät ansteigt, je mehr sie versucht, dieses fragile Ich, das da in ihr zu blühen versucht, auf eigene, feste Beine zu stellen, je mehr sie versucht, ihren Platz zu finden. Und bei Gott, das ist auch ohne die ständige Furcht vor dem Zorn des Allmächtigen schon schwer genug.

Nach dem Fall der Mauer in den Osten

Stefanie de Velasco folgt dieser Zweiteilung in ihrer Erzählweise konsequent. Dialektisch bereitet sie den Roman auf, in Kapitel, die alternierend von der Zeit „davor“ und „danach“ erzählen, „Genesis“ (Schöpfungsgeschichte) und „Exodus“ (Auszug aus Ägypten), von Esthers Leben mit Sulamith und einem, in dem sie plötzlich fehlt. Das eine spielt im Westen vor der Wende, das andere im Osten nach dem Fall der Mauer, wo die Zeugen Jehovas bis dahin verboten waren und Esthers Eltern nun versuchen, eine kleine Gemeinde aufzubauen.

Was genau das „Davor“ vom „Danach“ trennt, hält die Autorin mit feiner Spannung bis zum Schluss in der Schwebe. Das ist überzeugend konstruiert, wirkt aber passagenweise auch etwas langatmig, weil diese Emanzipationsgeschichte von Anfang an all zu durchsichtig ist. Dennoch gelingt es de Velasco, Esthers Welt authentisch nachzuzeichnen.

Sie trifft den Ton im Stil der wohlklingenden, tumben Einfachheit eines Mädchens, das ihr Dasein in anschaulichen Bildern begreift: „Klingelschilder sind für Mutter das, was für andere Leute Pralinen sind. Sie gleitet mit den Fingern darüber, als könnte sie sich nicht entscheiden, welches sie als Erstes verschlingen soll.“

Nach und nach entgleitet Sulamith Esther. Ein Junge ist der Grund. Er bespielt ihr Kassetten mit „Kuschelrock“-Liedern, mit Roxettes „Listen to your Heart“ – „Hör' auf dein Herz!“, deutlicher geht es nicht. Der Junge entfacht das letzte bisschen Neugier und Reflexionsvermögen, das nicht erstickt werden konnte. In diesem Auseinanderdriften bricht Esthers existenzielle Krise auf, die einen quälenden, psychologischen Krieg mit den Überzeugungen anzettelt, mit denen sie seit Geburt wie von innen ausgekleistert wurde.

„Kein Teil der Welt“ ist ein behutsames Buch, das seinen Figuren Zeit gibt, sich zu finden. Auch wenn man etwas unruhig durch die Seiten blättert, weil man ahnt, was kommt. „Glaubst du daran?“, fragt Sulamith gegen Ende. „Keine Ahnung“, sagt Esther. Entweder, oder. Vielleicht kann Immanuel Kant helfen: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Man will es Esther auf jeder Seite entgegenrufen.

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