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Vor 25 Jahren wurde Béla Tarrs siebenstündiges, kritisches Klagelied auf der Berlinale gezeigt.

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Béla Tarrs „Sátántangó“ auf der Berlinale: Ungarns unvergesslicher Schlamm

Zurück in Berlin: Der Berlinale-Abend, als Béla Tarrs Geniestreich „Sátántangó“ 1994 Premiere feierte, gilt als cineastischer Geniestreich.

Filme, die fast einen Tag Lebenszeit füllen, hat es nicht selten im Forum-Programm gegeben. Unvergesslich, wenn nach solch einem Bingewatching der klassischen Art immer noch Luft für ein ausgiebiges Gespräch im Kino blieb.

Keine Premiere im Delphi ohne Diskussion – in Ruhe, um einen quadratischen Tisch herum, den Ulrich Gregor, der langjährige Leiter, nach jeder Vorstellung vor die Leinwand wuchten ließ. Das Publikum erwartete dieses Ritual, erinnert er sich im Gespräch über die Premiere von Béla Tarrs Film „Sátántangó“. Seit dem Berlinale-Abend am 8. Februar 1994 gilt der als cineastischer Geniestreich.

Mehr als sieben Stunden der düsteren Parabel über die Verführbarkeit und Todesvergessenheit der Menschen waren vorüber, kaum jemand hatte das Kino verlassen, trotz scheinbar endlos langer Einstellungen und Schwarzblenden mit dem schwermütig melodischen Vortrag ganzer Passagen aus László Krasznahorkais Roman „Sátántangó“. Fast in Realzeit war man mit lebensgierigen armen Dörflern – lauter faszinierenden Charakterköpfen aus der oberen Riege Budapester Schauspieler – durch bleiernen Regen und schmierigen Schlamm gestapft, hatte den Bankrott des kollektiven Landwirtschaftsbetriebs in der ungarischen Tiefebene mit Händen greifen können und die Leichtgläubigkeit erlebt, mit der das Dorf einem „Erlöser“ nachlief, der es an höhere Stellen verriet.

Experiment über die Frage, was Zeit ist

Jetzt saß das nervöse Team bei Ulrich Gregor und konnte den Applaus, überhaupt das gute Ende einer hindernisreichen Entstehungsgeschichte nicht fassen. Die pure Verzweiflung über das wirkliche Leben in Ungarn habe das verschworene Team dazu getrieben, unbeirrbar an seiner Geschichte über das Vergehen der Zeit festzuhalten, antwortet László Krasznahorkai auf eine Publikumsfrage. Béla Tarr erzählt, dass er die Verfilmung dieses großen Klagelieds zusammen mit seinem Freund wie eine Bewährungsprobe durchlebte.

Peter Berling, der einzige Deutsche im Team, in der Rolle eines Eigenbrötlers und klarsichtigen Trinkers, bewundert den freundschaftlichen Umgang aller bei der Arbeit. Und Béla Tarr erklärt philosophisch, dass Filmemachen wie das reale Leben sei – ein Experiment über die Frage, was das ist: Zeit.

Susan Sontag holte den Film nach New York

Erika Gregor, die „Sátántangó“ mit ihrem Mann nach Berlin geholt hatte, freute sich über ein berührendes Detail der Filmfassung, die sie an diesem Abend zum ersten Mal sah: „Es gibt da eine Widmung an Alf Bold, der ein Jahr zuvor an Aids gestorben war. Alf gestaltete 20 Jahre mit mir die Programme im Arsenal Kino. Er war es, der dem Produzenten Joachim von Vietinghoff Koproduktionsdevisen für Béla Tarr entlockte. Sein einziges Argument damals war: Mit diesem Film kommst du in die Filmgeschichte.“

„Stärker als Béla Tarrs Kritik an maroden sozialen Verhältnissen hat die universelle existenzielle Seite der Geschichte nichts von ihrer Wirkung eingebüßt“, meint Ulrich Gregor, der Béla Tarr immer wieder zur Berlinale einlud. „So sah das auch Susan Sontag“, ergänzt Erika Gregor. Die New Yorker Essayistin zeigte „Sátántangó“ während ihres Berliner DAAD-Aufenthalts als Carte Blanche im Arsenal Kino. Tief beeindruckt holte sie den Film auch nach New York. Der Abend im Delphi-Kino öffnete Türen für Béla Tarr.

16.2., 14 Uhr (Delphi)

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