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Die Hochzeit als Schlüsselmoment. Szene mit (von links nach rechts) Oliver Kraushaar, Peter Moltzen, Frank Genser, Stephanie Eidt, Sina Martens, Annika Meier und Benjamin Hartlöhner (Kamera).

© Birgit Hupfeld/BE

Berliner Ensemble: Kleines Zweimaleins

Enormer Aufwand, geringer Erkenntnisgewinn: Am Berliner Ensemble und am Theater Dortmund hat Kay Voges’ „Die Parellelwelt“ gleichzeitig Premiere.

Am lustigsten ist es eigentlich, bevor es richtig losgeht. Wenn man sich im Berliner Ensemble niedergelassen hat und auf den Beginn der Vorstellung wartet, sieht man via Großleinwand auf der Bühne – live zugeschaltet – den Zuschauerraum des Schauspielhauses Dortmund. Eine so ungetrübt kindliche Begeisterung hat das bildungsbürgerliche Theater wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht ausgelöst: Leuchtenden Auges winken Premierengäste von hier nach dort wie Fünfjährige, die von vorüberfahrenden Dampfern heruntergrüßen. In Dortmund wird ein BE-T-Shirt aus einem Beutel gezogen und unter Applaus vor der Live-Kamera herumgeschwenkt. Berlin reagiert mit Anerkennungsjohlen in Stadionlautstärke.

Bei diesen Szenen kann man nur den Eindruck gewinnen, dass es allerhöchste Zeit wurde: Das Theater hat offenbar viel aufzuholen, wenn es um den Anschluss ans digitale Zeitalter geht. Genau damit beschäftigt sich Kay Voges, der Chef des Schauspiels Dortmund, schon seit Jahren. Beim vorletzten Theatertreffen war sein Theaterlaboratorium mit der „Borderline Prozession“ auch in Berlin zu erleben.

Jetzt, zum Auftakt der neuen Saison, ist die Hauptstadt gleich direkt mit im Boot – und das Projekt so ehrgeizig wie noch nie. „Die Parallelwelt“ und findet gleichzeitig auf zwei Bühnen statt: im Berliner Ensemble und im Schauspiel Dortmund. Beide Häuser sind durch Glasfaserkabel, Bildschirm und Lautsprecher miteinander verbunden, sodass die Akteurinnen und Akteure miteinander spielen können: Ein Experiment, das es so noch nie gegeben hat.

Kay Voges will Theater und Technik kurzschließen

Und natürlich ist diese Koproduktion auch künstlerisch eine verdienstvolle Angelegenheit. Erstens, weil selbst die Bühnenbranche kaum an der digitalen Revolution vorbeikommen dürfte, wenn sie in ein, zwei Jahrzehnten noch Zuschauer haben will. Und zweitens, weil das Theater als Live-Medium par excellence zwar die analogste Kunstform überhaupt zu sein scheint, gleichzeitig aber seit jeher mit künstlerischen Strategien und Behauptungen arbeitet, die eher als digitaltypisch gelten. Durch die prinzipielle spielerische „Als-ob“-Vereinbarung werden auf der Bühne mit einer Lässigkeit Identitäten erfunden und wieder verworfen oder lineare Erzählmuster aufgesprengt wie in keinem anderen Medium. Umso avantgardeverdächtiger also, wenn Voges jetzt die Kunst mit der entsprechenden Technik kurzschließen will.

Die Textcollage, die der Dortmunder Intendant dafür zusammen mit dem Dramaturgen Alexander Kerlin und der Schauspielerin Eva Verena Müller unter Zuhilfenahme philosophischer, literarischer und naturwissenschaftlicher Textbausteine von Heraklit bis zu Werner Heisenberg entwickelt hat, muss man sich als eine Art wahrnehmungsphilosophisches Hintergrundrauschen vorstellen: Was ist real? Wie verändert unser Beobachtungsstandpunkt unsere Wahrnehmung – und wie die digitale Welt unser Raum-Zeit-Empfinden? Und ist diese lästige Hierarchie zwischen dem Faktischen und dem Fantastischen eigentlich überhaupt wasserdicht?

Die Story ist überschaubar

Inhaltliche Fragen also, die durchaus nicht zum ersten Mal bewedelt werden im Theater. Und auch die Story, in die das Autorenteam sie eingebettet hat, ist überschaubar. Wir erleben die Durchschnittsbiografie eines gewissen Fred, der natürlich – von wegen alltagspraktische Relativitätstheorie – auch eine Frau oder irgendein immaterieller Doppelgänger oder Alien sein könnte. Die Bühnen-Settings sind dabei in Berlin und Dortmund identisch, jeder Akteur hat ein Pendant auf der anderen Bühne. Das szenische Geschehen wird per Live-Schalte ins jeweils andere Haus übertragen und dort per Großbildschirm sichtbar gemacht.

Nur: Während Freds Geschichte in Berlin chronologisch erzählt wird, von der Geburt bis zum Tod, rollt sie in Dortmund rückwärts ab. Am dramaturgischen und biografischen Höhepunkt des Abends – bei Freds Hochzeit – treffen sich beide Zeitebenen und laufen auch als Erzählstränge kurz zusammen.

So weit die Konzeption. Und die Bühnenpraxis? Die sieht, vom technisch-logistischen Aufwand und der Bildregie abgesehen, überraschend konventionell aus. Wie der Schauspieler Uwe Schmieder in Dortmund auf seinem Krankenhausbett dem Ende entgegenröchelt, und wie Stephanie Eidt in Berlin gleichzeitig unter den Fred-Geburtswehen stöhnt: Das ist erst mal astreiner Fernsehrealismus, flankiert von Krankenschwestern im authentischen Häubchen-Look. Und weil es wahnsinnig schwer ist, Kausalitäten wirklich rückwärts zu erzählen, bleibt die Dortmunder Umkehr-Variante eigentlich nur ein Stationen-Abhaken in entgegengesetzter Reihenfolge – ohne die versprochene produktive Wahrnehmungsperspektiven-Verwirrung.

Die Akteure in Berlin und Dortmund sind sich einig: Jetzt 'ne Wurst!

Überhaupt gestaltet sich der theatrale Doppelschlag inhaltlich allzu vorhersehbar: In Berlin sitzt Fred als kleiner Junge unter einem Apfelbaum auf der Schaukel. In Dortmund hockt er als alter Mann im Sessel. Und beiden schießt, nun ja, ab und zu der gleiche Gedanke durch den Kopf. In der Hochzeitsszene können dann vor allem Freds Bräute – Annika Meier in Berlin und Bettina Lieder in Dortmund – wenigstens schauspielerisch mal aufdrehen, wenn sie sich gegenseitig als Ich-Kopie wahrnehmen und so die schöne Illusion der eigenen Einzigartigkeit begraben müssen.

Und sicher: Es gibt lustige Einfälle und durchaus pragmatische Begehrlichkeiten, wenn Schauspieler über eine 420-Kilometer-Distanz gemeinsam ihren Job ausüben. Oliver Kraushaar offenbart etwa seinem Dortmunder Kollegen Andreas Beck, dass er hier in Berlin gern aus der Vorstellung aussteigen würde, um im Ruhrpott – jawohl – eine Currywurst zu essen, während der Kollege in Dortmund, nun ja, selbstredend von Konnopke träumt.

Aber alles in allem bleibt die behauptete Wahrnehmungsphilosophie doch eher ein vages Raunen, manchmal hart an der Kitschgrenze. Und rein erkenntnispraktisch erlebt man hier nichts, was man nicht schon von René Pollesch wüsste. Oder von David Lynch, dessen „Lost Highway“ als DVD von den Akteuren hier immer mal wieder aus einem Regal gezogen wird. Fazit des digital-theatralen Revolutions-Zweistünders also: Theoretisch interessant, konzeptionell verdienstvoll, technisch und logistisch beeindruckend – und inhaltspraktisch mit noch viel Luft nach oben.

Weitere BE-Premiere: "Auf der Straße"

Letzteres gilt auch für die zweite Saisoneröffnungspremiere des Berliner Ensembles, Karen Breeces Produktion „Auf der Straße“ im Studio: Ein Rechercheprojekt mit BE-Schauspielern und Experten des Alltags zum Thema Wohnungslosigkeit. Die Regisseurin hat zwar großartig gecastet: Andrea Zipperer, die als Akademikerin nach Abzug aller Fixkosten von siebzig Euro pro Monat leben muss, oder der Flaschensammler René Wallner, der erfolgreich darauf achtet, dass man ihm die Obdachlosigkeit nicht ansieht, brechen wohltuend mit entsprechenden (Bühnen-)Klischees. Leider wird man aber auch an diesem Abend das Gefühl nicht los, dass inhaltlich deutlich mehr herauszuholen gewesen wäre. Mit oder ohne digitale Revolution.

Nächste Vorstellungen: „Die Parallelwelt“ läuft am 20. September sowie 28. und 31. Oktober, „Auf der Straße“ am 18., 20. und 21. September.

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