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Kultur: Berliner Hochdruckgebiet

Bereits nach hundert Tagen haben sich die Galerien der Jannowitzbrücke als Fixpunkt für zeitgenössische Kunst etabliert. Sie brachten sich sofort in die Diskussion und gehören nun neben den Orten für Kunst in Mitte, in der Zimmerstraße und in Charlottenburg zur Stadtgeographie der Unermüdlichen.

Bereits nach hundert Tagen haben sich die Galerien der Jannowitzbrücke als Fixpunkt für zeitgenössische Kunst etabliert. Sie brachten sich sofort in die Diskussion und gehören nun neben den Orten für Kunst in Mitte, in der Zimmerstraße und in Charlottenburg zur Stadtgeographie der Unermüdlichen. "Wir haben jetzt sogar mehr und insgesamt interessantere Besucher als in der Gipsstraße", meint Mehdi Chouakri von der Galerie Chouakri Brahms. Offenbar gibt es weiterhin ein neugieriges Publikum, das nicht nur die Bewegungen der Galerienszene mitvollzieht, sondern auch Hochleistungen erwartet. Je mehr Galerien die Arbeit aufnehmen, desto deutlicher der Druck auf die Besten. Und die Bögen unter der Jannowitzbrücke dürfen vorerst zum anhaltendem Hochdruckgebiet gerechnet werden.

Neben Büro Friedrich, Max Hetzler, Atle Gerhardsen und Chouakri Brahms wird im März die Galerie Carlier Gebauer mit dem Künstler Santiago Sierra eröffnen, der sich 2000 in Kunst-Werke durch eine Aktion mit ambivalenter Schärfe eingeführt hat. Er schnitt damals ebenso in die Substanz des Minimalismus wie der Asylantenpolitik, als er Asylsuchende in Pappkuben schmoren und Inszenierungen des Theatralikers Schlingensief vergleichsweise dumpf und überreizt aussehen ließ. Die Entscheidung für Ambivalenz und Abgebrühtheit traf das Unbehagen an der Zeit.

"Ich wollte keine Entscheidungen treffen, sondern ein System erfinden, das sie für mich trifft", fasste der 1940 geborene Turiner Alighiero Boetti seine künstlerische Arbeit zusammen, deren Essenz zurzeit bei Chouakri Brahms zu sehen ist. Boetti erarbeitete die programmatische Findung auf 81 großen Blättern als Collage, Foto, Druck, Handzeichnung unter dem Titel "Insicuro noncurante" (Wahrscheinlich gleichgültig). Es ist sein Vermächtnis und als unikates Portfolio angelegt (65 000 Euro). Boetti, der nach seinem plötzlichen Ruhm durch die Beteiligung an der legendären Arte Povera Ausstellung des Kurators Germano Celant 1967 dem Kunstbetrieb entfloh, entwickelte in den siebziger Jahren sein Werk vor allem in Afghanistan weiter und erst beim Einmarsch der sowjetischen Truppen 1979 verließ er das Land. Der Fernblick auf Afghanistan ist Begleiterscheinung, um Boettis Nachdenken über die Freiheit in Regelsystemen zu präsentieren: strikte Linien, viele weiße Stellen.

Demgegenüber erscheint "The Search für Orgone" von Carroll Dunham bei Atle Gerhardsen wie ein feucht-fröhliches Vorspiel zu einer Orgie. Dunham hat eine flexible Figur entwickelt, deren Nase sich mal zum Phallus stabilisiert, mal zur straffen Brust. Manche Zeichnungen lassen die Figur optisch kippen. Dann sieht man das eine im anderen. Ist das "pubertär" oder die skizzenhafte Genesis einer neuen Comic-Figur mit Hut und tröpfelnder Nase? Dunham schlägt vor, die Serie im Horizont des "Orgon" des Psychoanalytikers Wilhelm Reich zu sehen. Die Galerie spricht von "organischer Formensprache" und "mentalen Bildern". Beim Sehen regiert der Unernst und wird mit einem befreienden Schuss Vulgarität belebt (Preis auf Anfrage).

Bei Max Hetzler ist alles Stil und Klarheit. Sarah Morris, die in Berlin letztes Jahr große Auftritte hatte, zeigt zwei neue Großformate und intensiviert ihren Bezug zu van Doesburg und überhaupt zu de Stijl. Aber es bleibt ihr Geheimnis, wie sie es schafft, die strahlende Malerei so anzulegen, dass schlappe Leute davor noch schlapper aussehen und schicke Leute gesteigerte Präsenz gewinnen. Die Bilder wirken als anhaltend makellose Variante von "Spieglein, Spieglein an der Wand". Man achtet automatisch auf die Haltung der Leute. Angesichts dieser zunehmend unheimlichen Kunst, die es vermag, den Daumen zu heben oder zu senken, ist man den Bildern ausgeliefert. Steht niemand davor - sieht man das Bild allein - wirken sie leer. Sie schlagen erst in Gesellschaft die Augen auf und fällen ihr gnadenloses Urteil (Preis auf Anfrage).

So wird der Besuch der Jannowitzbrücke zum vitalisierenden Wechselbad. Nur heute und morgen projiziert Büro Friedrich den Performance-Klassiker "Underneath the Arches" von Gilbert & George von 1970 und schrammt mit der ewigen Ballade unter den Bögen der Brücke knapp am Kalauer vorbei; aber eben nur so knapp wie die Künstler selbst die Ironie des Auftritts toternst nehmen und mit ihrem Vortrag alle Einwände durch Disziplin und scheinbare Naivität entwaffnen. Der neue Stern am Himmel des 16mm-Films, Jonathan Monk, setzt dazu eine Korrespondenz-Arbeit des unaufhörlichen Rauchers George. Sie lässt ihn komisch aussehen. Doch das endlose "Underneath the arches I dream my dreams away" ist nicht komisch - weder heute noch morgen.

Peter Herbstreuth

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