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Robert Walser 1907, kurz nachdem er seinen Debütroman „Geschwister Tanner“ veröffentlichte.

© Getty Images/ullstein bild Dtl.

Biografie über Robert Walser: „Ohne Spazieren wäre ich tot, und mein Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, wäre vernichtet“

Rastlos unterwegs, Erfolge in Berlin, Tod in einer Heilanstalt: Susan Bernofsky schildert in einem beeindruckenden Buch das Leben des Schweizer Schriftstellers Robert Walser.

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Eine Boomstadt, das ist Berlin schon in der Kaiserzeit. Bis 1900 war ihre Einwohnerzahl auf zwei Millionen gewachsen. Während es in den nördlichen und östlichen Bezirken Fabriken und Slums gab, konnten es andere Viertel in ihrer Eleganz mit Paris aufnehmen.

Zu den jungen Menschen, die sich von Glanz und Größe der Reichshauptstadt angezogen fühlten, gehörte Robert Walser. 1897 brach er mit 19 Jahren aus Zürich zum ersten Mal nach Berlin auf. Ursprünglich hatte er wohl einen längeren Aufenthalt geplant und einen Aufschub seines Wehrdienstes beantragt. Aber zwanzig Tage später war er schon wieder zurück, enttäuscht, weil er erfahren hatte, „was Heimweh ist“.

Ein paar Jahre später, 1901, ist Robert Walser dann doch noch in Berlin angekommen, zumindest vorübergehend. „Ein schwer fassbarer Traum“ sei die Stadt für ihn gewesen, schreibt Susan Bernofsky in ihrer beeindruckenden Biografie über den „Hellseher im Kleinen“.

Alles auf eine Karte

Sollte der Plan, ein Berliner Literat zu werden, diesmal glücken? Nun war Walser kein Büroangestellter, keine Schreibkraft mehr. Sondern ein Autor, der bereits einige Texte veröffentlicht hatte, etwa in der Zeitschrift „Die Insel“. Er kannte Frank Wedekind und Alfred Kubin, der Kritiker Franz Blei war sein Mentor.

Robert Walser setzte alles auf eine Karte, indem er sich – ein Selbstzitat – „stellenlos machte“, nach seiner Ausbildung in einer Bank den bürgerlichen Karriereweg nicht weiterging. Er hatte, so Bernofsky, „das Modell gefunden, an dem er sein ganzes künstlerisches Leben lang festhalten sollte“. Walser lebte sehr sparsam, wohnte in möblierten Zimmern, aß in günstigen Restaurants.

Karl Walser, Roberts älterer Bruder, hatte hart kämpfen müssen, um sich als Künstler in Berlin zu etablieren, wo er Bühnenbilder für Max Reinhardt entwarf und Fresken für die Villen des Verlegers Samuel Fischer und des Politikers Walther Rathenau malte. Mit seinen rotgoldenen Haaren sah Karl „wie eine Sonnenblume“ aus, er betörte viele Frauen.

Und er schuf Buchumschläge, die zum Markenzeichen des aufstrebenden Verlags von Bruno Cassirer wurden. Ein Kontakt, von dem Robert profitieren sollte. Cassirer brachte seine Romane „Geschwister Tanner“, „Der Gehülfe“ und „Jakob von Gunten“ heraus.

Vieles wirkt merkwürdig in diesem Leben, manches märchenhaft. Robert Walser inszenierte sich in Berlin als Bürgerschreck, ein Gegenbild zu seinem erfolgreichen Bruder. Ständig ist er in Geldnot. Bei einem Spaziergang durch die Wilhelmstraße entdeckt er ein Schild, das für eine „Dienerschule“ wirbt.

Fünf solcher Institute existierten damals in der Metropole, hat Bernofsky recherchiert. Unterrichtet wurde unter anderem das Bedienen bei Tische, Saubermachen, Serviettenfalten und wie man Damen in Kutschen hinein- und aus ihnen heraushilft.

An der Berliner Wilhelmstraße entdeckte Robert Walser Werbung für eine Dienerschule.

© Imago/piemags

Walser absolviert einen Lehrgang und verdingt sich drei Monate lang als „Monsieur Robert“ auf einem Schloss in Oberschlesien. Diese Erfahrung verarbeitet er im Roman „Jakob von Gunten“ und der Erzählung „Tobold“, wo er seine „Dieneridee“ mit der Ritter-Obsession von Don Quijote vergleicht.

Abstürze und Traumata

Susan Bernofsky, Professorin an der Columbia University in New York, hat sieben Bücher von Walser ins Englische übersetzt und empfand sich schließlich als dessen „Bauchrednerin“. Sie will das Bild eines skurrilen Außenseiters geraderücken, ein „Porträt des Künstlers als professionellen Literaten“ zeichnen und feiert seine Kurzprosa als „hochmoderne Meisterwerke“.

Spazieren muss ich unbedingt. Ohne Spazieren wäre ich tot, und mein Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, wäre vernichtet.

Robert Walser, Schriftsteller

Robert Walser war rastlos unterwegs, es fällt nicht leicht, ihm auf den Fersen zu bleiben. Einmal wechselte er in einem Jahr dreizehnmal seine Unterkunft. Zu Fuß legte Walser große Entfernungen zurück, er war ein Wanderer, schneller als jeder Flaneur.

„Spazieren muss ich unbedingt“, verkündet er in seiner Novelle „Der Spaziergang“. „Ohne Spazieren wäre ich tot, und mein Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, wäre vernichtet.“

Bernofsky schildert eine Kindheit voller Abstürze und Traumata. Ihr Held, 1878 in Biel geboren, hatte sieben Geschwister. Mit sechs Jahren erlebt er, wie ein Bruder stirbt, die Eltern in Konkurs gehen und ihr Ladengeschäft verlieren. Mit 14 muss er aus finanziellen Gründen die Schulausbildung abbrechen. Mit 16 endet seine Kindheit, als die seelisch zerrüttete Mutter stirbt.

Schon in seinem Debütroman „Geschwister Tanner“ (1906) schreibt Walser über gewöhnliche Menschen, Figuren am Rand der Gesellschaft. Die Begeisterung „für das Kleine, Unscheinbare und Lokale“ ist, schreibt Bernofsky, typisch für sein Werk.

In der Bergwelt

1913 kehrt Robert Walser in die Schweiz zurück. Er lebt einige Monate in der Bergwelt des Jura, wo seine Schwester Lisa als Lehrerin arbeitet, muss während des Ersten Weltkriegs Militärdienst leisten. Der Höhenrausch der Berliner Jahre, in denen er auch häufig Texte in Siegfried Jacobsohns Zeitschrift „Die Schaubühne“ unterbringen konnte, hält zunächst an.

Eine Zeit lang hat Walser einen Verleger in Deutschland und zwei in der Schweiz. Kafka, Hermann Hesse, Robert Musil und Tucholsky verehren ihn. Aber hohe Auflagen erreichen seine Bücher nicht. Der Schriftsteller richtet sich in einer fragilen Existenz ein, in seiner Persönlichkeit tun sich Abgründe auf.

Walser neigt zu Alkoholexzessen, bereits in Berlin ist er öfter betrunken aus der Rolle gefallen. Er hat Liaisons, aber keine längere Liebesbeziehung. Bernofsky mutmaßt, dass er in Berlin eine homosexuelle Affäre gehabt haben könnte. Belegen lässt sich das nicht.

Zweifelhafte Diagnose

Das letzte Drittel seines Lebens – 28 Jahre – verbringt Robert Walser in psychiatrischen Kliniken. Er hört Stimmen, bedroht seine Vermieterinnen mit einem Messer. 1929 wird der Autor in der Heilanstalt Waldau bei Bern aufgenommen, Registriernummer 10.428.

Die Pauschaldiagnose lautet Schizophrenie, was die damals häufigste „Geisteskrankheit“ ist. Heute, glaubt Susan Bernofsky, würde Walser vielleicht nach einem kurzen Klinikaufenthalt entlassen und danach mit Medikamenten und Psychotherapien behandelt werden.

Als der Patient in die Anstalt Herisau im Kanton Appenzell verlegt wird, verschlechtert sich die Lage. Mit dem Direktor verbindet ihn eine alte Fehde. Nach einer Diagnose von diesem Arzt wird Walser in Abwesenheit entmündigt.

Schreiben, so Bernofsky, konnte Walser nur in Freiheit, mit der „Autonomie, sein ganzes Leben um seine Arbeit herum einzurichten“. In der Klinik beginnt für ihn „eine Ära der Resignation und schließlich der Stille“. Das Letzte, was er hinterlässt, sind Mikrogramme, Notizen in winzig kleiner Schrift, die erst vor wenigen Jahren entziffert werden konnten.

Am zweiten Weihnachtstag 1956 erleidet Robert Walser bei einem Spaziergang einen Herzinfarkt. Er stirbt mit dem Blick in den Himmel, in einer Hand hält er eine Handvoll Schnee.

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