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Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Gendarmenmarkt.

© Comofoto - stock.adobe.com/Heinz-Guenter Hamich

Bis ins 19. Jahrhundert waren Kirchen noch lebhafte Orte: Kommt singen, tanzen, debattieren!

Die Kathedrale Notre Dame in Paris erlebt gerade einen Besucheransturm. Unser Kolumnist wünscht sich, dass die museale Stille auch in Berliner Kirchen mehr gestört wird.

Stand:

In Berlin gibt es derzeit keine Kirche, vor der sich Besucher stauen, so wie es jetzt trotz Zeitticket-Vergabe vor der Kathedrale Notre Dame de Paris geschehen wird. Aber auch in Berlin gibt es von Berlinern gern besuchte Kirchen, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, den Dom, die Marienkirche, die St. Hedwigs-Kathedrale. Und immer wieder hört man in ihnen das mahnende Zischen: „Pssst – hier ist eine Kirche“. Oder: „Können die ihre Gören nicht im Zaum halten?“ Draußen tobt der Weihnachtsmarkt – hier soll weltabgewandte Ruhe herrschen.

Diesen Meditationszwang fordern viele moderne Kirchenbauten ästhetisch ein. Auch die superkarge, weiße neue St. Hedwigs-Kathedrale will ihre Nutzerinnen und Nutzer ganz auf sich selbst und Gott – oder die Göttlichkeit – zurückwerfen. So wie es angeblich Zisterzienserkirchen des Mittelalters getan haben. Aber dies nackte, klare, karge Kirchen-Bild ist eine moderne Imagination, geschaffen von puristischen Architekten und Denkmalpflegern sowie einer Theologie bei Protestanten wie Katholiken, die den Glauben radikal individualisiert. Systematisch haben sie deswegen die einst belebenden bunten Altargemälde, Skulpturen, Wandbilder, Teppiche, schimmernden Altargeräte musealisiert.

Sicher, es gibt großartige Gegenbeispiele, die Berliner (katholische) Kirche Maria Regina Martyrum etwa: wie da das Wandgemälde von Georg Meistermann mit der burgundischen Madonna aus dem 14. Jahrhundert zusammenklingt! Oder der in sattes, blaues Licht getauchte Raum der (evangelischen) Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, in dem die riesige goldene Jesus-Figur die Menschen mit weit ausgebreiteten Armen empfängt.

Doch selbst diese Räume lassen eine Ebene außen vor, die in den Touristen- oder Wallfahrer-Hotspots noch zu erleben ist: die Kirche als Raum des gesellschaftlichen Zusammenkommens, der Vielfalt des Lebens, in dem getanzt, gehandelt, geredet, debattiert, gespielt, einst sogar gehurt wurde. Die Bilder in der Gemäldegalerie zeigen dies pralle Leben in den Kirchen.

Die Vorstellung von Kirchen als reinen Meditationsräumen stammt aus dem 19. Jahrhundert, geprägt vom viktorianischen Bürgertum, das Ruhe suchte vor der beginnenden modernen Hektik, dem Dauerkampf um sozialen Status, dem Konsumzwang, der das Vertrauen in andere Menschen, in die fürsorgende Kraft der Gesellschaft und Politik, einer übergeordneten Göttlichkeit verdrängt. Wenn der erste und letzte Blick vieler Menschen aufs Display des Handy geht, braucht es wohl solche Räume der Ruhe. Aber wir sollten sie nicht mit einem scharfen „Psst“ erzwingen. Es reicht meist ein freundlicher Blick. Oder ein Gespräch. Das kann in Touristenkirchen schon beim Warten aufs Ticket entstehen.   

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