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Der große Saal der vor 100 Jahren erbauten Synagoge von Augsburg.

© picture alliance / Stefan Puchner/dpa

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (36): Borschtsch auf der Datscha in Augsburg

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.

29. Mai 2022
Das fast vergessene Gefühl, mehr Zeit unterwegs zu verbringen als zu Hause. Vor ein paar Jahren war es für mich üblich, heute muss ich mich aufs Neue daran gewöhnen. Auch wenn ich in meiner Berliner Wohnung bin, packe ich meinen Rucksack nicht aus. Diese Woche geht’s nach Augsburg und Freiburg. In beiden Städten war ich schon mal, entweder mit Band oder als DJ, man tanzte bis in die Morgenstunden. Heute ist die Stimmung anders.

Auf den Straßen von Augsburg höre ich fast ausschließlich Ukrainisch und Russisch. Wie in Berlin hängen überall blau-gelbe Fahnen. Ich stelle fest, dass um die Ecke von meinem Hotel eine vor 100 Jahren gebaute Synagoge steht, die auch als Jüdisches Museum dient. Ich gehe hin und laufe einer Führung hinterher. Es ist eine Schulklasse, über 20 Kinder, die sich an diesem Freitagmorgen mit der deutsch-jüdischer Geschichte beschäftigen müssen.

Künstler Andrey aus Kiew erzählt mir sofort aus seinem Leben

Der große Saal der Synagoge ist wunderschön. In dem Moment, als ich reinkomme und mich darüber freue, ganz allein zu sein, geht eine andere Tür auf - die Schulklasse kommt rein. Auch die Kids sind beeindruckt. Leiser hören sie dem Tourguide zu. Mir fällt jedoch auf, dass egal, was er sagt, zwei Jungs am Rande in die andere Richtung schauen. Wahrscheinlich verstehen sie ihn nicht. Dann höre ich, wie einer dem anderen was ins Ohr flüstert, auf Ukrainisch.

Bei meinem planlosen Spaziergang durch die Straßen Augsburgs stehe ich plötzlich vor einem Gebäude, das mir irgendwie bekannt vorkommt, jedoch bin ich mir sicher, noch nie hier gewesen zu sein. Ich gehe näher ran und es fällt mir ein: Das ist doch das Grandhotel Cosmopolis! Über diesen Ort hat Geoff Berner, einer der besten jüdischen Songschreiber unserer Zeit, einen Song verfasst, der auch zum Titel seines Albums wurde! Ich weiß noch, wie er mir 2019 in einer Pizzeria in Friedrichshain begeistert davon berichtete – ein Hotel und Hostel, was zugleich auch eine Flüchtlingsunterkunft ist. Auch Konzerte finden dort statt, eine der Wände im Foyer ist mit Tourplakaten bedeckt.

Ich finde Geoffs Poster, mache ein Foto davon und schicke es ihm. Er meldet sich nach 20 Minuten aus seinem Zuhause in Vancouver, als ich schon auf dem Weg zurück zum Hotel bin. „Grandhotel Cosmopolis!,“ schreibt er. „I miss these people! And I miss you too!“ Er möchte wissen, ob es heute auch Ukrainer dort untergebracht sind. In den zehn Minuten, die ich da war, habe ich kein Ukrainisch gehört, antworte ich.

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In meinem Hotel möchte ich am Empfang nach einem Wasserkocher fragen, muss mich aber gedulden, bis die Rezeptionistin mit einem anderen Kunden fertig wird. Er erinnert mich ein bisschen an meinen Vater – ich sehe, dass er nichts davon versteht, was die Frau ihm sagt, tut aber sein Bestes, um den Gegenteil vorzutäuschen. Die ältere Dame, die neben ihm steht, hat einen abwesenden Blick und nimmt nicht am Gespräch teil.

Der Herr möchte ihr was sagen. Ich höre, dass sie Russisch sprechen und frage, ob sie Hilfe brauchen. Ja, das tun sie! Sie mussten gestern Abend eine halbe Stunde warten, bis man ihnen das Tor aufgemachte, erzählt mir Andrey. Ich übersetze ihm, es sei nicht der einzige Weg, abends ins Hotel reinzukommen. Wir gehen raus, damit ich ihm einen anderen Eingang zeige.

Die Datscha im Martini Park von Augsburg.
Die Datscha im Martini Park von Augsburg.

© Yuriy Gurzhy

Andrey ist sehr gesprächig, er erzählt mir sofort, dass er Künstler ist und aus Kiew kommt, außerdem macht er oft Bühnenbild in Theatern. Ob ich schon mal in Kiewer Theatern war, vielleicht habe ich schon eine seiner Arbeit gesehen. Und seine Begleiterin ist eine renommierte Pianistin, sie hätte ich vor dem Krieg in der Kiewer Philharmonie sehen können. Andrey lädt mich in sein Zimmer ein, da hat er viele Bilder, vielleicht möchte ich sie mir anschauen. Ich muss mich entschuldigen, da ich zur Veranstaltung muss.

Auf einer Wiese im Martini Park in der Nähe des Augsburger Staatstheaters hat man eine Datscha gebaut, dort finden einen Monat lang unterschiedliche Events statt, unter anderen auch meine Lesung. Danach gibt’s Borschtsch für alle. Am späten Abend telefoniere ich noch mit Oleg, einem Freund aus Kiew, der als Kunstkurator arbeitet. Ob er den Andrey kennen würde, möchte ich wissen. Aber natürlich, antwortet Oleg, ein toller Typ ist er. Ich soll ihm schöne Grüße ausrichten.

Morgen muss ich einen frühen Zug nehmen, der Weg nach Freiburg ist lang. Ich schreibe Andrey, er meldet sich erst Stunden später. Wir versprechen einander, im Kontakt zu bleiben.

Lesen Sie hier weitere Folgen des Tagebuchs:

Yuriy Gurzhy

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