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Kultur: Bringt dieses Spiel zu Ende

Atiq Rahimi erklärt Afghanistan mithilfe von Dostojewski.

Hältst du mich für einen Detektiv?“, fragt der Gerichtsschreiber einmal. „Du bist weder in einem Kriminalfilm noch in einem Roman von ... Agatha ... Christie!“ Damit sollte man „Verflucht sei Dostojewski“, den neuesten Roman des überwiegend in Paris lebenden Afghanen Atiq Rahimi auch nicht verwechseln. Die Geschichte von Rassul, einem der Figur Raskolnikow aus dem Roman „Schuld und Sühne“ (in neuerer Übersetzung: „Verbrechen und Strafe“) nachempfundenen ehemaligen Jurastudenten, der eine alte Kupplerin ermordet, dann aber Geld und Schmuckstücke zurücklässt und sich fortan mit seinem Gewissen herumschlägt, bedient zwar den Spürsinn literarischer Fährtensucher, doch nicht unbedingt die Spannungsgier des durchschnittlichen Krimipublikums.

Für seine Verlobte Suphia, seine Mutter und seine Schwester hatte Rassul töten wollen. Aber als er das Beil hebt, „schießt ihm plötzlich die Geschichte von ,Verbrechen und Strafe‘ in den Sinn.“ Was folgt, ist eine fast pantomimische Szene: der letzte Atemzug der Frau, ihre Pupille, die sich an ihrem Mörder festsaugt, der Blutstrom, der in Richtung der Geldscheine rinnt, der erstarrte Rassul, den der Schock verstummen lässt.

„Heute habe ich nana Alia getötet“, schreibt er, in sein schäbiges Zimmer zurückgekehrt, in ein Heft, das ihm Suphia geschenkt hat. Dem schmierigen Vermieter schuldet er Geld, den beiden Familien, für die er verantwortlich ist, kann er nun auch nicht helfen. Wenn er sich überhaupt aus seinem Zimmer bewegt, zieht er durch die saqichanas, die Drogenhöhlen Kabuls, raucht und lauscht den Geschichtenerzählern.

Rassul gehört nirgends dazu, er ist weder dabarisch noch tawarisch, kein Bärtiger und kein Genosse. Sein Vater hat es mit den Sowjets gehalten und ihn nach Leningrad zum Studieren geschickt, wo er den „verfluchten Dostojewski“ entdeckte, der ihm so passend erscheint für „dieses einst mystische Land, das sein Verantwortungsgefühl verloren hat“. Vergiss Dostojewski, fordert sein Cousin Razmodin. Er benehme sich wie ein schotor-morgh – ein Vogel Strauß: „Wenn du fliegen sollst, sagt du, du bist ein Kamel, wenn du Lasten tragen sollst, sagst du, du bist ein Vogel.“ Wie ist es möglich, fragt sich Rassul, in diesem vom Bürgerkrieg zerrissenen Land zu leben, ohne zu einer Seite zu gehören?

Während ihm seine Tat umso mehr auf der Seele liegt, je länger die Leiche der alten Frau verschwunden bleibt und sich kein Ankläger zu finden scheint, erinnert er sich an die Zeit in Leningrad, an die erste Begegnung mit Suphia, den Krieg. Erlebtes und Fantasiertes trifft auf die gewalttätige Gegenwart. Wie in seinen früheren Romanen beweist Rahimi auch hier sein Talent, europäische und orientalische Erzählkunst zu vermischen.

Die verstummten oder um ihre Sprache ringenden Protagonisten spielten schon in „Erde und Asche“ und „Stein der Geduld“ eine wichtige Rolle. So auch hier. In Afghanistan zählt noch immer der Verrat schwerer als das Verbrechen. „Egal, ob man tötet, stiehlt oder vergewaltigt ... Es zählt einzig, dass man keinen Verrat begeht. Dass man Allah nicht verrät, seinen Clan, seine Familie, sein Vaterland, seinen Freund ...“ Indem Rassul seine Anklage fordert – „ich will, dass der Prozess, das Urteil Zeugnis ablegt von dieser Zeit der Ungerechtigkeit, der Lüge der Scheinheiligkeit ...“ –, hebt er das Verbrechen über den Verrat. Und scheint dabei so hochmütig wie Raskolnikow, der sich über die gewöhnlichen Menschen zu erheben versuchte.

Wie der gleichnishaft aufgerufene Esel, der sich verirrt hat und nur noch sterben will, hat sich auch Afghanistan verirrt. „Was tun“: Beim russischen Erzähler Tschernyschewski noch mit einem Fragezeichen versehen, ist das für den Esel keine Frage mehr: „Bringt es zu Ende“, sagt sein Blick. Indem er um die Vollstreckung bittet, „fordert er uns auf, über unser eigenes Schicksal nachzudenken.“ Rahimis Parabel über Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe reklamiert – vielleicht ein bisschen zu deutlich – eben dieses Fragezeichen.

Würde jeder seine Taten infrage stellen, hätte das Land eine Chance, dem brudermörderischen Chaos ein Ende zu setzen. Rassul, der am Ende wegen einer Lächerlichkeit doch noch im Gefängnis landet, hat mit der Frage nach dem Sinn des Mordes diesen selbst infrage und die Welt auf den Kopf gestellt mit dem „verfluchten Dostojewski“.

Atiq Rahimi:

Verflucht sei

Dostojewski. Roman. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Ullstein Verlag,

Berlin 2012.

283 Seiten, 19,99 €.

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