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La Fura dels Baus: Zwergenland ist abgebrannt

Gut gelaunter Weltuntergang: La Fura dels Baus möbeln in Brüssel György Ligetis Oper "Le Grand Macabre" auf.

Die Überlebenschancen der Menschheit schätzte der 2006 verstorbene György Ligeti auf den ersten Blick nicht besonders hoch ein. Da lässt er den Propheten Nekrotzar in seinem „Grand Macabre“ den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang verkünden – doch wie reagiert das Opernvolk auf die Mahnungen des unheimlichen Sensenmanns? Es macht einfach weiter wie zuvor, frisst und säuft, intrigiert und kopuliert, schert sich einen Teufel um die Zukunft. Und wenn am Ende alle mit einem blauen Auge davongekommen sind und sich zum War-doch-alles-nicht-so-schlimm-Schlussgesang an der Rampe vereinen, darf man Zweifel hegen, ob die Lehren aus der Krise von Dauer sein werden.

An Weltuntergangsszenarien, auf die sich das 1978 uraufgeführte Werk beziehen ließe, mangelt es derzeit nicht. Ob Klimakatastrophe, Atomkraft oder Wirtschaftskrise, für sie alle scheint Ligetis sarkastisches Fazit von der Unbelehrbarkeit der Menschen gleichermaßen zuzutreffen. Nur wofür sich entscheiden? Spielt es überhaupt eine Rolle, woran die Menschheit letztlich zugrunde geht, wenn sie ohnehin auf jede Bedrohung nur mit Verdrängung reagiert? Und sollte man die Geschichte drum nicht lieber gleich im absurden Fantasiereich Breughelland belassen, in dem sowohl die Oper wie auch die Theatervorlage des Flamen Michel de Ghelderode die Moritat verorten?

Fragen, auf die das katalanische Theaterkombinat La Fura dels Baus an Brüssels Opernhaus eine kongeniale Antwort gefunden hat. Weil letztlich gar nicht die Bedrohung (die auch Ligeti absichtsvoll im Unbestimmten lässt), sondern der Mensch selbst schuld an seinem Untergang ist, stellt das Fura-Regieteam Alex Ollé und Valentina Carrasco den Menschen selbst auf die Bühne von La Monnaie. Die riesenhafte Skulptur einer gestürzten Frau beherrscht dieses Breughelland wie Gulliver das Reich Lilliput, und schon das Video, das zu Beginn auf den Vorhang projiziert wird, wirft Ligetis Ausnahmesituation mitten in den Prekariatsalltag. Nicht um den großen Operntod geht es, sondern um das banalste selbstverschuldete Massenschicksal. Aschenbecher voller Kippen und die Stapel von Burger-Packungen auf dem Wohnzimmertisch der Probandin signalisieren ebenso wie die schrill trötenden Alarmhupen der Ouvertüre höchste Alarmstufe. Sobald der Vorhang aufgeht, werden die zwei Stunden Oper zur kunstvoll gedehnten Zeitspanne zwischen Leben und Tod dieser Frau, zum Abtauchen des Bewusstseins in einen Zustand, in dem die Organe und Körperfunktionen plötzlich mit neuer Intensität wahrgenommen werden.

Und nichts anderes als Körperteile und Gestalt gewordene Sekrete sind die Figuren, die sich aus der Skulptur lösen, aus Mund, Augen und sonstigen Körperöffnungen kriechen. Mal ganz konkret, wie im Falle des muskulären Liebespaars Amando und Amanda, das ohnehin nichts anderes tut, als sich in seinen vokalen Kontraktionen aneinanderzuschmiegen, mal eher freier assoziierbar wie im Falle der hysterischen Domina Mescalina, die mit ihren welken Hängebrüsten an eine ausgepumpte Drüse erinnert.

Was der absurden Ebene des Stücks wunderbar gerecht wird. Denn die Skulptur der gefallenen Riesin wirkt, als habe Bühnenbildner Alfons Flores sie aus Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ ausgeborgt. Wie die Menschlein in dem berühmten Triptychon klettern die Figuren der Oper auf ihr herum, immer wieder klaffen Körperteile auseinander und geben den Blick auf pulsierende Blutbahnen und Gedärme frei, und das Fußvolk, das die Katalanen auch hier wieder zur Umsetzung ihrer Bildversion zahlreich einsetzen, gehört mit seinen Overalls und Gasmasken vermutlich zur Abteilung Immunabwehr. Und wie in ihrem spektakulären „Ring“ in Valencia nutzen die Furas ausgiebig die Möglichkeit der Videotechnik. Auf dem gipsernen Frauenkörper erscheinen Mienenspiel und Knochengerüst, Inferno und Verklärung – ein jüngstes Bilder-Gericht.

Das alles passt überraschend gut zu Ligetis Musik. In ihrem streng kalkulierten Patchwork aus textfreien Gesangslinien und gesprochener Deutlichkeit, aus scheinbarer Anarchie und Traditionsbezug wirkt der „Macabre“ tatsächlich wie ein Organismus, der verschiedenste, selbsttätige Funktionen zueinander ins Verhältnis bringt. Die Menschen, die auf der Bühne agieren, haben letztlich ebenso wenig die Möglichkeit ihr Verhalten zu ändern wie die Organe eines Körpers, auch wenn das Hirn in Gestalt des Propheten Nekrotzar noch so mahnt (der flämische Bariton Werner van Mechelen sendet leider nur schwache vokale Hirnströme aus). Ohnehin ist die Brüsseler Produktion eher ordentlich als herausragend besetzt. Die Lebenssignale kommen eindeutig aus dem Orchestergraben, wo der junge Brite Leo Hussain einen zugleich formscharfen wie sinnlichen Dringlichkeitston findet.

Dieser „Macabre“ klingt wie ein Organismus, bei dem sich die Streicher wie Bindegewebe und die Bläser wie Nervenstränge um die Organe legen, in der Formen wie die Passacaglia gen Ende fest und klar wie ein Knochengerüst stehen. Dieser Körper, scheint die Musik in ihrer prallen Vitalität zu verkünden, ist nicht so leicht umzubringen. Wollen wir’s hoffen.

Jörg Königsdorf

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