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Entfernt. Kanye West und Taylor Swift wurden beide gecancelt.

© picture alliance / dpa

„Cancel Culture“: Wie der Kulturbetrieb diskriminierende Künstler boykottiert

In der Politik werden alle Tabus gebrochen. Eine „Cancel Culture“ will dies ausgleichen - und kämpft mit systematischem Boykott für Moral im Kunstbetrieb.

Zombies sind seit Jahrzehnten ein beliebtes Motiv der Popkultur, doch sie häufen sich auch im Kulturbetrieb: Ryan Adams, Kanye West, Kevin Spacey, Roseanne Barr sie alle sind wandelnde Untote. Sie sind in Ungnade gefallen, ihre Karrieren wurden für tot erklärt, und ihr Schaffen und öffentliche Person aus dem Popdiskurs gestrichen – sie wurden gecancelt. Gerade nach #Metoo erwuchs in den sozialen Netzwerken eine Praxis, die heute im englischsprachigen Raum als „Cancel Culture“ zusammengefasst wird. Ziel ist die systematische Boykottierung und „Annullierung“ einer Person, die durch zweifelhafte Aussagen oder diskriminierende Handlungen auf sich aufmerksam gemacht hat. Eine Verbannung aus dem öffentlichen Leben als Strafmaß für Verstöße gegen die politische Korrektheit.

Kritiker der „Cancel Culture“ warnen vor der Tyrannei der linken Sittenpolizei oder dem Stammesdenken des Twittermobs, und verweisen auf die Freiheiten der Kunst- und Meinungsäußerung. Der Rapper Kanye West etwa prangerte in der „New York Times“ an, dass er gecancelt wurde, weil er sich weigerte, Trump zu canceln. West hatte zuvor reichlich eigene absurde Aussagen getroffen, die das Ausklammern seiner Person rechtfertigen: etwa, dass die Sklaverei in Amerika zum Teil eine persönliche Entscheidung gewesen sei.

Auch in Deutschland stellt sich die Frage nach den Grenzen des Sagbaren im Kulturbereich, wie die diesjährige Leipziger Jahresausstellung gezeigt hat. Die renommierte Kunstausstellung drohte auszufallen, nachdem die Einladung des umstrittenen Malers Axel Krause für einen Eklat gesorgt hatte. Krause hatte in der Vergangenheit migrationskritische Aussagen gepostet und die AfD ein „begrüßenswertes Korrektiv im maroden Politikbetrieb“ genannt. Der Künstler wurde schlussendlich ausgeladen, die Ausstellung mit Verspätung doch noch eröffnet.

Genau wie bei dem Argument, man solle nicht mit Rechten reden, weil man ihnen so eine Plattform bietet, setzte hier der Imperativ des Ignorierens ein. Der Boykott dient aber nicht nur dem Totschweigen der vermeintlichen Diskriminierer, sondern auch als Korrektiv, um die Machtunterschiede zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minoritäten zu beseitigen. Die „Cancel Culture“ ist ein Instrument der Entmachtung, das im Kulturbetrieb enorme Schlagkraft entfalten und zu Vertragskündigungen und Verkaufseinbrüchen führen kann. Das ist wichtig, aber in Teilen ein Stellvertreterkrieg für die eigentliche Konfrontation: die politische.

Die politische Korrektheit wird nicht zuletzt deshalb so vehement eingefordert, weil die Politik ihre Korrektheit längst verloren hat. Die Anfeindungen und Hasstiraden der Rechtspopulisten sind mittlerweile Bestandteil des politischen Diskurses und bleiben oft ohne direkte Konsequenzen. Donald Trump hat keine Angst; wegen seiner rassistischen Tiraden gecancelt zu werden, denn man kann ihn nicht ohne Weiteres boykottieren. Der Entzug von Aufmerksamkeit gestaltet sich schwierig, weil es nicht um ein Album oder einen Film geht, sondern um Weltbewegendes. Mehr noch, der Tabubruch gehört gar zur populistischen Strategie (mit dem Einzug von Boris Johnson in die 10 Downing Street weiter gefestigt), die versucht, durch eine hemmungslose Sprache allmählich den Handlungsspielraum zu erweitern.

Mittlerweile wurde der Rahmen des politisch Sagbaren so weit ausgedehnt, dass nur noch wenige Aussagen einem Tabubruch gleichkommen. Vielmehr stellt sich bei weiten Teilen der Bevölkerung eine Erwartungshaltung ein, die die politische Verantwortung und Rechenschaft untergräbt. Wer erst mal als Rassist oder Populist abgestempelt wurde, erhält einen Freifahrtsschein zur Daueragitation. Der Ton verroht als Folge, die Verantwortung erodiert. So kann die Politik nicht mehr als moralischer Maßstab dienen.

Soll man nun einfach auf bessere Zeiten hoffen? Die „Cancel Culture“, genau wie die politische Korrektheit, ist ein Auswuchs der Frustration über das Versagen der Politik. Also versuchen die Verfechter der „Cancel Culture“ wenigstens in den sozialen Medien und im Kunstbetrieb eine Moralität zu erzwingen, die keine Diskriminierung oder Feindseligkeiten gegen Minoritäten duldet. Sie wollen wieder Kontrolle und Rechenschaft etablieren, dort regulieren, wo Facebook, Twitter und Co. vor Zensur zurückscheuen, und somit Rechten eine Plattform bieten. Wo die Meinungsfreiheit heraufbeschworen wird, um rechtes oder sexistisches Gedankengut zu legitimieren.

Der Rhetorik der Ausgrenzung werden so zwar allmählich die Bühnen geraubt. Aber wie groß ist der Nutzen, wenn sie sich weiterhin in den Zentren der Macht bequem machen kann.

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