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Magische Stunde. Der junge Sioux Brady Blackburn spielt sich in „The Rider“ selbst.

© Weltkino

Chloé Zhaos Western „The Rider“: Das ganz andere Amerika

Halb Fiktion, halb Realität: Chloé Zhaos Western „The Rider“ ist eine eindrucksvolle Milieustudie über Native Americans, die als Cowboys arbeiten.

Von Andreas Busche

Ein Cowboy ohne sein Pferd ist wie ein Farmer ohne Land. Cowboy – Pferd – Land. Die Dreifaltigkeit des amerikanischen Westens ist das Thema von Chloé Zhaos zweitem Spielfilm „The Rider“, ein moderner Western, der das klassischste aller Hollywood-Genres mythologisch entkernt. Der Cowboy ohne Pferd hat den Bezug zu seinem Land verloren. Das gilt insbesondere für einen jungen Sioux wie Brady, der mit dem Land noch eine symbiotische Beziehung pflegt. Der „Indianer“ als Cowboy ist eine interessante Variante des Western-Mythos, in dem diese beiden Figuren die Binarität der gewaltsamen Landnahme verkörpern. Aus der gesellschaftlichen Realität des nation building ist der Cowboy langsam herausgefallen. Ähnlich wie der Pionier hat er sich selbst obsolet gemacht, je konkretere Formen das Projekt „Amerika“ annahm: vom Symbol der Freiheit zum Sozialfall. In der modernen Arbeitswelt sichert der Beruf des Cowboys keine Existenzen mehr, er fungiert für die Verlierer des Wandels allenfalls noch identitätsstiftend.

Zhao behandelt in „The Rider“ ein weites Feld hochaktueller Themen mit einer lyrischen Grandeur, die dem klassischen Western eigen ist – ohne das Genre beziehungsweise das amerikanische Projekt, das gerade politisch in seinen Grundfesten erschüttert wird, zu verklären. Arbeit und Identität, die ökonomische Marginalisierung des heartland (Trumps „wahrem Amerika“) und die Gewaltgeschichte der USA, die zur Folge hatte, dass viele Ur-Amerikaner heute in Reservaten leben, klingen in „The Rider“ an.

Das hat auch viel mit der semidokumentarischen Form von Zhaos Film zu tun. Brady Blackburn, sein Vater Tim und seine jüngere Schwester Lily spielen sich gewissermaßen selbst. Sie leben im Pine Ridge Reservation in South Dakota, ein ehemaliges Übungsgelände des US-Militärs und heute mit einer Arbeitslosenquote von 85 Prozent eine der ärmsten Regionen der USA. Die Blackburns leben von der Pferdezucht, die Rodeocowboys werden in der Sioux-Gemeinde wie Helden verehrt. Die Pferde stellen ihre letzte Verbindung zum Land dar, auf dem sie selbst nur geduldet sind.

Unvorbelasteter Blick auf den Mythos des Westerns

Wenn Brady in den Abendstunden allein ausreitet, in der „Magic Hour“, deren glühendes Licht den Bildern von Kameramann Joshua James Richards (sein letzter Film hieß passenderweise „God’s Own Country“) tatsächlich einen magischen Glanz verleiht, wirkt er im Einklang mit der Natur. Ihn umgibt eine schamanistische Aura, die ihm auch beim Zähmen der zum Teil traumatisierten Pferde zugutekommt. Zhao zeigt die Arbeit der Cowboys mit geduldiger Neugier für die Spiritualität ihres Alltags – die der Film jedoch noch nie mit Esoterik verwechselt. „The Rider“ steht eher in der jüngeren Tradition eines „regionalen“ US-Independentkinos, das wieder stärker die Realität an der Peripherie der Gesellschaft in den Blick nimmt. In einer der schönsten Szenen sieht man Brady minutenlang dabei zu, wie er ein Wildpferd zähmt, wie er sich spirituell auf das Tier einlässt und ihm schließlich körperlich nähert, während die Sonne langsam am Horizont versinkt.

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Wie fließend die chinesische Regisseurin, die in den USA studiert hat, die Register des Dokumentarfilms und des traditionellen Erzählkinos in „The Rider“ verbindet, hat wohl nicht zuletzt auch damit zu tun, dass sie als Außenseiterin unvorbelastet auf den Mythos des Westerns blickt. Zhao hatte schon ihr Langfilmdebüt „Songs My Brothers Taught Me“ vor drei Jahren im Pine-Ridge-Reservat gedreht, hier lernte sie unter anderem Brady Jandreau kennen, so Bradys tatsächlicher Familienname, dessen weiche, verletzliche Gesichtszüge ihn für eine tragische Rolle prädestinieren.

Die Biografien der Laiendarsteller verschmelzen mit den Figuren

Brady hatte nach den Dreharbeiten einen Rodeounfall, seitdem trägt er eine Metallplatte im Kopf. Die Ärzte rieten ihm, nie wieder ein Pferd zu besteigen. Aber ein Cowboy ohne Pferd ist in der maskulinen Rodeo-Kultur ein Niemand. Noch schwerer als die soziale Abwertung aber wiegt seine Identitätskrise. „Einem Pferd in meiner Lage würde man den Gnadenschuss geben“, erklärt er im Film seiner Schwester, die mit dem Asperger-Syndrom lebt. Brady und Lily bilden eine Art Schickalsgemeinschaft, sie sind zu feinfühlig für die sozialen Konventionen, nach denen die Menschen hier funktionieren müssen. Auch der Vater ist in diesem Dilemma gefangen: Er will seinen Sohn nicht verlieren, weiß aber um dessen Rolle in der Sioux-Gesellschaft.

Authentizität ist für Zhao kein bloßes Stilmittel, die Biografien der Laiendarsteller verschmelzen mit den Figuren. So entsteht aus einer innerlichen Dramaturgie heraus eine eindrucksvolle Milieustudie, die ein ganz anderes Amerika zeigt – aber auch die realen Bedingungen schon mitdenkt. Bradys Freund Lane ist nach einem Rodeounfall ein Pflegefall, zusammen sehen sie sich Youtube-Videos seiner früheren Erfolge an. Jetzt ist er nur noch ein Schatten seiner selbst. Brady muss entscheiden, welche Rolle er für sein zukünftiges Leben annehmen möchte. Ob die Gesellschaft ihm diese zugesteht, steht auf einem anderen Papier.

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