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Nichts ist wie es scheint: Eine Szene aus dem Band "Existenzen und andere Abgründe".

© Carlsen

Manga: Abgründe des Alltags

Der Japaner Yoshihiro Tatsumi, der jetzt auf Europas wichtigstem Comicfestival in Angoulême ausgezeichnet wurde, ist ein Pionier der ernsthaften Manga-Erzählung. Endlich wird sein Werk auch auf Deutsch veröffentlicht.

In den Kurzgeschichten von Yoshihiro Tatsumi ist nichts, wie es scheint: Ein treu sorgender Sohn entpuppt sich als Muttermörder, die Geliebte eines einsamen Fischers ist nichts als die Ausgeburt seiner Fantasie, der Freier einer Prostituierten an der Weltkriegsfront stellt sich als ihr Vater heraus. Tragische Schockmomente durchziehen die trostlosen, stellenweise fast unerträglich traurigen Geschichten des Japaners, der als Urvater des Gekiga gilt, der ernsten, anspruchsvollen Manga-Erzählung.

Jetzt legt der Carlsen-Verlag eine Sammlung seiner Arbeiten aus den 1970er und 80er Jahren vor, deren Titel „Existenzen und andere Abgründe“ dem Inhalt gerecht wird. Es sind die Schicksale der kleinen Leute und der Ausgestoßenen, die den 1935 geborenen Comicautor besonders interessiert haben. Ihre täglichen Sorgen, Dramen und die stille Verzweiflung, die mit der Armut und dem täglichen Kampf ums Überleben am Rande der Gesellschaft einhergeht, hat er in meisterhaften Miniaturen eingefangen.

Parallelen zu Will Eisner

Die schlichte zeichnerische Eleganz dieser Episoden steht dabei in einem ähnlichen Kontrast zu den traurigen Inhalten wie bei dem US-amerikanischen Graphic-Novel-Pionier Will Eisner. Beiden gemein ist das enorme Einfühlungsvermögen in die Alltagsnöte der einfachen Menschen und die Fähigkeit, in Kurzgeschichten von 20, 30 Seiten die Essenz des jeweils beschriebenen menschlichen Dramas einzufangen. Das Verlorensein des Einzelnen in der Masse, die Einsamkeit des modernen Großstädters – nur wenige andere Comicautoren haben das über einen längeren Zeitraum so schonungslos und doch sensibel dokumentiert wie diese beiden.

Es ist dem Carlsen-Verlag daher hoch anzurechnen, dass er nach der Würdigung Eisners durch dessen in den vergangenen Jahren auf Deutsch erschienene dreibändige Gesamtausgabe seiner wichtigsten Erzählungen jetzt auch das Werk Tatsumis einer breiteren westlichen Leserschaft zugänglich macht. Der aktuelle Band ist da nur der Anfang, in diesem Jahr steht unter anderem die Veröffentlichung von Tatsumis umfangreicher gezeichneter Autobiografie „Gegen den Strom“ auf dem Programm. Diese wurde kürzlich auch auf Europas wichtigstem Comicfestival in Angoulême mit dem „Prix regards sur le monde“ ausgezeichnet.

Rätselhafte Wendungen, unerwartete Überraschungen

Auch wenn die in „Existenzen“ versammelten Arbeiten Jahrzehnte alt sind, wirken sie doch bemerkenswert zeitlos. Die Kunst des Japaners besteht auch darin, zumeist eigentlich unerträglich tragische Geschichten so spannend zu erzählen, dass man als Leser hineingezogen wird. Immer wieder baut er in seine realistisch wirkenden Miniaturen rätselhafte Wendungen und unerwartete Überraschungen ein, die zum Weiterlesen reizen.

Zeitlose Szenen: Eine Seite aus "Existenzen".
Zeitlose Szenen: Eine Seite aus "Existenzen".

© Carlsen

Besonders berührend sind die Geschichten immer dann, wenn deutlich wird, dass viele der traurigen Gestalten einst ein glückliches, normales Leben lebten, bis ein äußeres Ereignis sie aus der Bahn warf. Wie durchlässig die Grenzen zwischen gesellschaftlichem Erfolg und dem Vegetieren unter Brücken oder in den Kellern der Hochhäuser manchmal sind, führt Tatsumi auf beunruhigende Weise vor. Aber er lässt vielen seiner Protagonisten auch Raum, ihre Würde und ihren Stolz zu behaupten – und gelegentlich gönnt er sich und seinen Lesern sogar einen Moment der komischen Entlastung, wenngleich mit einem bitteren Unterton. So bei der der Schilderung der Beziehung eines Mannes zu einer Gummipuppe oder der vorübergehenden Verwandlung eines Liebeskranken in einen Affen.

Yoshihiro Tatsumi : Existenzen und andere Abgründe, Carlsen, 320 Seiten, 19,90 Euro

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