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Bestseller. Neil Gaimans "Sandman" verkaufte sich nicht nur gut, die Reihe erschloss auch neue Leserschichten.

© Vertigo

Aus für "Sandman"-Label: #Vertigone

Das Comiclabel Vertigo hat den US-Comicmarkt revolutioniert und geprägt wie kaum ein anderes. Nach 26 Jahren stellt DC es nun ein. Ein Nachruf

Es war keine Revolution, als der Comicverlag DC, bis dahin fast ausschließlich auf Superhelden-Comics spezialisiert, im Januar 1993 ein neues Comiclabel startete, erst als "DC Vertigo", später verkürzt als "Vertigo". Eher war es zwangsläufig.

Denn die eigentliche Revolution war bereits zehn Jahre zuvor geschehen. Damals hatte DC Comics seine Fühler nach Großbritanien ausgestreckt, um mit den höheren Honorarzahlungen der wesentlich größeren amerikanischen Comicindustrie britische Zeichner und Autoren in die USA zu locken. Eine ihrerzeit nicht neue Methode.

Bereits in den Siebzigerjahren hatte DC eine Reihe von Zeichnern von den Philippinen rekrutiert. Ab 1979 flogen DC-Angestellte regelmäßig zu britischen Comic Conventions, wo sie unter anderem Zeichner wie Brian Bolland ("Camelot 3000") anwarben.

Vielschichtig, experimentell, politisch

Doch ihren Stempel aufdrücken sollten der kommenden Bewegung nicht so sehr die Zeichner wie die Autoren, die auf den Inseln angeworben wurden. Der erste Comicautor jener später "british invasion" genannten Entwicklung war Alan Moore, der ab 1983 die Möglichkeit bekam, die inhaltlich wie kommerziell ziemlich runtergerockte Serie "Swamp Thing" zu übernehmen, und aus dem Südstaaten-Horror eine vielschichtige, experimentelle und sozial Stellung beziehende Serie machte, die bald zu den Bestsellern des Verlages gehörte.

Getragen vom kommerziellen Erfolg engagierte der Verlag im Verlauf der Achtzigerjahre weitere damals weitgehend unbekannte Autoren, unter ihnen Neil Gaiman und Grant Morrison. Als Redakteurin der Titel wurde Karen Berger abgestellt, die ihren Autoren weitgehend den Rücken freihielt.

Das war dringend nötig. Geprägt von den deutlich ruppigeren und freizügigeren Comics Großbritanniens wie "Judge Dredd" und "2000 AD" schrieben diese Autoren offen über Sex, Rassismus, sublime Ängste, Religion, Elend und vieles mehr.

Die Zeichner, ebenfalls häufig Briten, passten sich dem an. Abgesehen von den Underground-Comics hatte der amerikanische Comicmarkt noch nie so viel Nacktheit, abgesehen von den Horrorcomics des EC-Verlages der Fünfzigerjahre selten so viel Gewalt in Comicheften gesehen.

Südstaaten-Horror. Alan Moore machte aus "Swamp Thing" eine vielschichtige, experimentelle und sozial Stellung beziehende Serie.
Südstaaten-Horror. Alan Moore machte aus "Swamp Thing" eine vielschichtige, experimentelle und sozial Stellung beziehende Serie.

© Vertigo

Nicht immer hatte Berger Erfolg. Eine Geschichte von Autor Rick Veitch, in der Swamp Thing auf Jesus traf, war der DC-Chefredakteurin Kahn so heikel, dass sie ihre Veröffentlichung in letzter Minute verbot, als das Heft bereits fertig gezeichnet war.

Obwohl die Hefte häufig Weiterentwicklungen von Superheldenkonzepten waren (etwa Morrisons "Animal Man" oder Peter Milligans "Shade the Changing Man"), spielten sie eher in den Randgebieten des umfangreichen DC-Superheldenkosmos. Auftritte von Helden wie Superman und Batman gab es zwar, sie blieben aber die Ausnahme.

Und es verkaufte sich auch nicht alles so brillant wie "Swamp Thing" von Moore (der die Serie 1986 verließ, um "Watchmen" zu schreiben). Aber mit der vielschichtigen Poesie von Neil Gaimans "Sandman" überflügelte man dessen Erfolg ab 1989 und, mehr noch, erschloss sich eine weibliche Leserschaft in der bisher von Männern dominierten amerikanischen Fanszene.

Insgesamt bildeten die Titel der britischen Invasion und einige wenige andere eine Gruppe von Comics, die sich inhaltlich wie von der Leserschaft her deutlich vom Rest der DC-Hefte unterschieden, und oft genug kommerziell tragfähig waren.

"We're handing you a line"

Als schließlich der Versuch Disneys, Comics ähnlicher Machart zu publizieren, noch vor Veröffentlichung scheiterte und eine Vielzahl halbfertiger Comicserien vorlag, die man preiswert einkaufen konnte, führte das zur Gründung von Vertigo, weiterhin unter der Ägide von Karen Berger.

Laufende Serien (neben den bereits genannten "Hellblazer", ein "Swamp Thing"-Spin-off, und "Doom Patrol") wurden aus dem DC-Universum ausgegliedert und um neue Serien ergänzt, "Sandman Mystery Theatre" etwa, eine Krimi-Noir-Serie.

"We're handing you a line", versprach der Verlag in ganzseitigen Anzeigen zum Start. Ein Slogan, der sich doppeldeutig sowohl auf die neue Linie an Comicheften bezog als auch meint, dass man jemand in die Irre führt. Comics, die einen überraschen und zum Nachdenken bringen, versprach Berger im Editorial der ersten Vertigo-Hefte.

Tatsächlich konnte Berger dieses Versprechen lange halten. Vertigo führte prägende Comicautoren der vergangenen zwanzig Jahre auf dem amerikanischen Markt ein, darunter Garth Ennis (Preacher") und Warren Ellis ("Transmetropolitan").

Mit der Übernahme von Harvey Pekars legendärem Underground-Comic "American Splendor" dehnte sie die Grenzen des kommerziellen Comics bis aufs Äußerste. Mit "100 Bullets" von Brian Azzarello ging sie das Wagnis ein, eine Serie zu starten, die von vornherein auf hundert Hefte festgelegt war.

Experimentierfreudig. Auch Harvey Pekars Underground-Comic "American Splendor" gehörte vorübergehend zum Programm.
Experimentierfreudig. Auch Harvey Pekars Underground-Comic "American Splendor" gehörte vorübergehend zum Programm.

© Vertigo

Die Innovationen und Wagnisse konnten freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass Vertigo von Anfang an mit Problemen belastet war. Von "Swamp Thing" und "Animal Man" erschienen mehr Hefte vor Vertigo als in der ganzen Zeit ab Bestehen des Labels. Von den Anfangsserien des Labels wurden zwei ("Kid Eternity" und "Black Orchid") innerhalb von weniger als zwei Jahren eingestellt.

In allen Fällen lag es an unzureichenden Verkaufszahlen. Von Neil Gaiman ist das Bonmot überliefert, die Paperback-Nachdrucke seiner "Sandman"-Reihe hätten das Label jahrelang finanziell über Wasser gehalten.

Nach der Jahrtausendwende mehrten sich die Probleme. Eine "Hellblazer"-Geschichte von Warren Ellis wurde trotz Bergers Schützenhilfe vom Verlag abgelehnt, weil sie zu starke Ähnlichkeit mit dem Schulmassaker von Columbine besaß. Grant Morrison, der mit "Animal Man", "Doom Patrol" und "The Invisibles" geholfen hatte, das Label groß zu machen, sprach damals von einem "Ned Flanders genehmen Vertigo", eine Anspielung auf den hypergottesfürchtigen und spießigen Nachbarn der Simpsons.

Vor allem aber machte der Abschwung des US-Comicmarktes dieser Zeit dem Label zu schaffen. Serien, die eigentlich als fortlaufend geplant waren, wurden zunehmend kürzer. War es zu Beginn des Labels noch üblich, dass Vertigo-Serien siebzig oder mehr Ausgaben schafften, galt es nach der Jahrtausendwende schon als Erfolg, wenn ein Titel fünfzig Ausgaben erreichte. Die wenigsten schafften es.

Neue Konzepte in schneller Folge verbrannt

Zwar gab es immer noch große erfolgreiche Serien, wie Bill Willinghams Märchen-Fantasy "Fables", das vor allem in der Paperback-Auswertung hervorragend lief. Daneben aber immer mehr Flops wie Brian Azzarellos Western "Loveless", "Testament" von Techno-Papst Douglas Rushkoff oder "Air" von G. Willow Wilson ("Ms. Marvel" bei Marvel). Vertigo verbrannte inhaltliche Konzepte in immer schnellerer Folge.

Der nachlassende kommerzielle Erfolg führte letztlich zum Ende des Labels - wenn auch indirekt. Von Anfang an hatte Vertigo eine Geschäftspolitik, die sehr freundlich zu den Kreativen des Labels war. Rechte an den Comics wurden geteilt oder den Zeichnern und Autoren ganz überlassen, Originalcomicseiten den Zeichnern nach Veröffentlichung zurückgeschickt.

Mit der Zunahme von Comicverfilmungen in Kino und TV änderte DC das. Um leichter über Verfilmungsrechte verhandeln zu können und Einnahmen nicht teilen zu müssen, beanspruchte DC ab 2010 sämtliche Rechte an Vertigo-Comics für sich. Mit der Folge, dass kaum noch jemand bereit war, für Vertigo zu arbeiten. Vor allem nicht die großen Namen wie Ellis, Ennis oder Morrison, die bessere Konditionen bei anderen Verlagen erhielten. Es war der Aufstieg von Verlagen wie Image, der heute als das neue Vertigo gilt.

Langlebig. "Hellblazer" brachte es auf 300 Ausgaben.
Langlebig. "Hellblazer" brachte es auf 300 Ausgaben.

© Vertigo

2012 verließ schließlich Karen Berger das Label. 2013 wurde "Hellblazer" eingestellt, die mit 300 Ausgaben langlebigste Vertigo-Serie, zu diesem Zeitpunkt einer der schlechtverkauftesten Titel des DC-Verlags überhaupt. Es war ein Menetekel für ein nahendes Ende, an dem auch Versuche wie eine Neubelebung 2018 nichts ändern konnten.

Paradox: Während Vertigo aufgrund dessen zunehmend kreativ ausgelaugt wirkte, gelangte es vor allem im Fernsehen und auf den Streamingportalen zu neuem Leben. Serien wie "Preacher", "Lucifer", "iZombie", "Doom Patrol", "Swamp Thing" oder demnächst "Y - The Last Man" adaptieren direkt Vertigo-Stoffe, andere wie "Legends of Tomorrow" bedienen sich im Vertigo-Fundus.

Wenn DC nun zum Jahresende Vertigo "in den Sonnenuntergang schickt" (so nennt es der Verlag), bedeutet es das Ende einer Ära. Vertigo hat den US-Comic beeinflusst wie nur wenige sonst seit 1945: Max Gaines' EC Comics, Stan Lees Marvel-Revolution und Robert Crumbs Underground-Innovation.

Es hat dem Comicmarkt Bestseller beschert, dem TV-Markt Fernsehserien. Es hat vielen heute renommierten Zeichnern und Autoren ihre Karrieren ermöglicht. Vor allem aber war es ein Label, das lange erfolgreich anspruchsvolle US-Comics für Erwachsene produzieren und verkaufen konnte. Vertigo war nicht der Anfang einer Revolution, aber ihr Ende.

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