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Comic-Analyse: Die Grenzüberschreiter

Die Form weiterdenken: Der Comic steht vor bedeutenden Veränderungen, aber die Neu-Etikettierung als „Graphic Novel“ gibt das nur unzureichend wieder. Ein Essay zur Zukunft des Mediums.

Der Comic galt lange Zeit als das Medium, mit dem anhand einzelner Panels und mittels Sprechblasen aus den Mündern der Figuren unterhaltsame, aber auch anspruchsvolle Geschichten erzählt wurden.  Die Panelkästen, in denen sich Schrift und Bild trafen, galten als Distinktionsmerkmal gegenüber anderen Künsten. Je konventioneller die Darstellung des Erzählten, umso eher schien es sich um einen Comic zu handeln. Doch der Comic war auch immer feinen Veränderungen unterworfen: Robert Crumb etwa zeichnete die Panelgrenzen frei aus der Hand, anstatt sie mit dem Lineal zu ziehen und nutzte die Panels selbst zum künstlerischen Ausdruck. Frank Miller befreite den Comic von den Gedankenblasen und bettete den inneren Monolog der Figuren als rasantes Stilmittel in die Bilder ein.

Auch der Comic im Jahr 2011 entwickelt sich weiter, denn viele Künstler, die in die Nähe der Graphic Novel gerückt werden, der in sich abgeschlossenen Comic-Erzählung, probieren mit neuen Mitteln aus, wie das Erzählen mit Bildern vorangetrieben werden kann. Die Lust am Experiment gab es schon einmal in den 1990ern, nannte sich Avantgarde und ging ganz eindeutig zu Lasten der Erzählung. Heutzutage aber steht die Geschichte im Vordergrund, und um diese zu transportieren werden neue Möglichkeiten ausgenutzt. Vermehrt wird beispielsweise auf dicke Outlines verzichtet und die Zeichnungen werden nicht mehr getuscht. Die Drucktechnik macht es möglich, dass nun fragile Bleistiftzeichnungen veröffentlicht werden können. Die Künstler suchen dabei oftmals auch die Schnittmenge zu Illustration, Grafik und Design.

Oder auch zur Literatur. Etwa die Engländerin Posy Simmonds, die in „Tamara Drewe“ (Tagesspiegel-Rezension hier) ihre Comicsequenzen mit längeren Prosastücken mischt, dadurch gelingt es ihr, den Figuren noch mehr Tiefe zu geben. Manch ein Comicleser mag beim Anblick solcher textlastiger Seiten mit den Augen rollen, aber die Ergebnisse, die Simmonds damit erzielt, sind bestechend – wie man auch an der geglätteten Verfilmung erkennen kann, die mitnichten das Original erreicht. Natürlich ist Simmonds nicht die erste, die solcherart illustrierte Romane fertigt, aber niemand hat es mit einer ähnlichen Eleganz getan.

Austausch über alle Grenzen hinweg

Auch andere Neuerscheinungen gaben 2010 schon einmal einen Blick auf die Zukunft des Comics frei, etwa Jens Harders Mammut-Werk „Alpha“ (Rezension hier), ein echter Doku- oder Sachcomic über die Entstehung der Erde, das manch einen dazu verführte zu hinterfragen, ob das dann noch ein Comic sei, schließlich ist die chronologische Wiedergabe von geologischen und biologischen Ereignissen nicht unbedingt eine grandiose Erzählung. Dennoch zeigt Harder auf, was möglich ist mit der Form und in welche Richtungen sie sich entwickeln könnte. Dafür gab es ja auch zu Recht den Prix d’Audace auf dem letztjährigen Comicfestival in Angoulême.

Sein Nachfolger (den aktuellen Bericht unseres Autors aus Angoulême findet man hier) wurde übrigens jemand, dessen erster Band auch schon auf Deutsch verlegt wurde, der Flame Brecht Evens. Sein Comic „Am falschen Ort“ (Rezension hier) über Freundschaft und Partykultur hebt das konventionelle Panelschema bisweilen völlig auf, stattdessen sind die Textfragmente frei schwebend auf der Seite verteilt, die Figuren nur noch farbige Konturen die ineinander fließen.

Abschied von den Konventionen: Brecht Evens' Comic „Am falschen Ort“ betritt stilistisches Neuland.
Abschied von den Konventionen: Brecht Evens' Comic „Am falschen Ort“ betritt stilistisches Neuland.

© Reprodukt

Allein diese drei Künstler machen die Veränderung deutlich, denn sie allen entstammen nicht den großen Comic-Kulturen. Stattdessen kamen die innovativen Bände der letzten Jahre aus Australien, Israel oder Finnland. So entsteht eine Form des globalen Comics, die vor einigen Jahren undenkbar schien. Natürlich ist die Welt im digitalen Zeitalter näher zusammen gerückt, aber dass sich die Einflüsse so schnell verbreiten, ist erstaunlich.

Wer hätte gedacht, das mal ein Comic von Griechen über den Philosophen Bertrand Russell zu den Bestsellern des Comicjahrs zählt, auch wenn dort – womöglich aus didaktischen Zwecken – wesentlich konventioneller das kleine Comic-Einmaleins buchstabiert wird. Der Band „Logicomix“ (Rezension hier) ist aber in weiterer Hinsicht bemerkenswert, er reflektiert zwar geschickt auf mehreren Ebenen Leben und Werk des Philosophen, aber wie der  Stil der Ligne Claire, mit dem der Belgier Georges Remi alias Hergé den franko-belgischen Comic begründete, kommerziell genutzt wird und zur Gebrauchsgrafik mutiert, lässt andererseits erschaudern.

Tim und Struppi unter Punks

Wie man dagegen den Stil von Hergé weiterentwickeln kann, zeigt der Amerikaner Charles Burns mit „X’ed out“, dem ersten Teil eines längeren Werks in Albumformat (geplant bei Reprodukt). Die Ligne Claire hat in Amerika viele Anhänger, Jason Lutes nutzt sie für seine aufgefächerte Chronik der Weimarer Republik in „Berlin“, Spurenelemente sind in den Comics von Seth zu finden, und auch Chris Ware nähert sich mit seiner Vereinfachung immer mehr dieser traditionellen europäischen Stilistik an.

Charles Burns hingegen gelingt Dekonstruktion und Hommage in einem. Tims obligatorischer Haarschopf ist schwarz eingefärbt und statt des schneeweißen Struppi gibt es eine schwarze Katze. Doch wer das große, exotische Abenteuer erwartet, wird enttäuscht. Es beginnt kafkaesk, als der Protagonist erwacht, findet er ein schwarzes Loch in  der Mauer und dahinter eine alptraumhafte, fremde Welt, in der immer wieder Artefakte aus dem Tim-Alben auftauchen – scheinbar jeder bekannten  Bedeutung beraubt.  Man muss kein Prophet sein, um die Deutung der rotweißen Pilze bei Burns zu ahnen. Burns zeichnet einen Spoken-Word-Dichter mit Tim-Maske im Punkmilieu, da darf auch William S. Burroughs nicht fehlen, das Enfant Terrible der Beat Generation, der mit seiner Cut-up-Methode (dem Zerschneiden und neu zusammensetzen von Texten)  der Sprache näher kommen wollte. Dieses Cut-up hat Burns in „X’ed out“ in den Comic überführt, scheinbar unzusammenhängende Ebenen werden verflochten, und man darf gespannt sein, wie sich dieser Alptraum entwickelt. Burns hat stolz verkündet, dass er „jedes Gramm Fett weggeschnitten“ hat, so dass nur die Ligne Claire übrig bleibt, nackt, in einem fremden Land, umgeben von Maden und Würmern. Natürlich gab es dafür eine Nominierung in Angoulême.

Konzept-Comic. In David Mazzucchellis „Asterios Polyp“ entwickeln die Zeichnungen ein Eigenleben.
Konzept-Comic. In David Mazzucchellis „Asterios Polyp“ entwickeln die Zeichnungen ein Eigenleben.

© Illustration: David Mazzucchelli

Babylonische Sprachverwirrung

Noch bleibt bei den atemberaubenden, neu ausloteten Werken die emotionale Seite auf der Strecke, das ist auch in den innovativen Bänden von Daniel Clowes über den Misanthropen „Wilson“ und bei David Mazzucchellis artifiziell-faszinierendem Formenspiel „Asterios Polyp“ (Tagesspiegel-Rezension hier) der Fall.  Nichtsdestotrotz denken diese Comickünstler die Form weiter, und die große Leidenschaft, mit der sie dem Comic Neues bringen, macht diese fehlende Emotion wieder wett. Vielleicht hat die Aufmerksamkeit, die dem Comic durch die Graphic Novel zuteil wird, dazu beigetragen, aber die babylonische Sprachverwirrung hierzulande um diesen Begriff verschleiert das Wesentliche beim modernen Erzählen mit Bildern.

Eine Graphic Novel ist weder eine literarische Gattung (die Germanisten werden sich bei der Bildbeschreibung eines Comics auch mehr als schwertun), noch anhand des Anspruchs einer Erzählung zu bemessen. Eddie Campbell („From Hell“) sieht auch keinen Sinn darin, den Begriff zu definieren und erklärt die Graphic Novel als Bewegung von Zeichnern. Doch zu jeder Bewegung gibt es auch Gegenbewegungen, die einen wollen die Form vorantreiben, die anderen sie kommerziell ausnutzen. Es bleibt jedem selbst überlassen, welcher man sich anschließt.

Während also noch darüber debattiert wird, ob und wie die Graphic Novel zum Comic steht, inwieweit Graphic-Novel-Adaptionen den Comic voranbringen oder eine Genreunterteilung in Graphic Crime Novel, Graphic History Novel oder Graphic Biography sinnvoll ist, macht der Comic einfach das, was er am besten kann: Er entwickelt sich aus selbst heraus und entzieht sich allen Einordnungen indem er sich ständig selbst erneuert. Die Einflüsse und die Künstler kommen aus der ganzen Welt, nicht länger sind nur die traditionellen Comic-Kulturen dafür verantwortlich. Man mag also vom Begriff der Graphic Novel halten was man will, aber diese Bewegung sollte man unbedingt im Auge zu behalten, denn sie wird den Comic verändern.

Klaus Schikowski lebt in Köln als freier Autor. Er veröffentlicht regelmäßig in der Fachzeitschrift „Comixene“ und vielen anderen Publikationen Artikel über Comics. Sein BuchDie großen Künstler des Comics(Edel-Verlag, 256 Seiten, Hardcover, mit 130 Illustrationen, 29,95 Euro) gibt einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Autoren und Zeichner der Comicgeschichte.

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