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Leichtfüßiger Liebesreigen: Makita Samba (r.) Noemie Merlant in „Wo in Paris die Sonne aufgeht“.

© Neue Visionen Filmverleih/dpa

Comicverfilmung „Wo in Paris die Sonne aufgeht“: Sittengemälde der Globalisierung

Der Film „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ adaptiert drei Kurzgeschichten des Comicautors Adrian Tomine über menschliche Beziehungen in Zeiten moderner Medien.

In China, erklärt Emilie, gebe es ein Sprichwort, das lautet: „Erst vögeln, dann mal schauen!“ Emilie muss es wissen. Sie stammt aus Taiwan, hat in Paris ein Elite-Studium abgeschlossen und schlägt sich jetzt mit Gelegenheitsjobs durch. Ihre Wohnung im Pariser 13. Arrondissement gehört ihrer Großmutter, die allerdings wegen Demenz in einem Heim lebt.

Gerade sucht Emilie eine neue Mitbewohnerin, weil ihr Job im Call Center gefährdet ist. Dann steht Camille vor der Tür. Wider Erwarten ein gutaussehender Lehrer, Person of Color, sehr selbstbewusst und gewitzt. Emelie erinnert sich an das chinesische Sprichwort und akzeptiert Camille als Untermieter. Beide beginnen sogleich eine leidenschaftliche Affäre, die auch schnell wieder endet, als Emelie mehr will. Die Wohngemeinschaft endet abrupt.

Nora ist für ein Jurastudium aus Bordeaux nach Paris gekommen. Mit ihren 33 Jahren ist sie eigentlich etwas zu alt für ein Studium, und für Paris etwas zu gutmütig-naiv. Als sie dann verkleidet auf eine Spring-Break-Party geht, wird sie mit dem einschlägigen Camgirl Amber Sweet verwechselt. Die Konsequenzen sind heftig. Nora wird so sehr gemobbt, dass sie das Studium abbricht. Dabei weiß sie lange nicht, wer diese Amber Sweet überhaupt ist.

Jetzt braucht Nora einen neuen Job. Weil sie einige Jahre im Immobiliengeschäft erfolgreich tätig war, bewirbt sie sich bei einer kleinen Agentur, die von Camille geleitet wird, der offenbar Schuldienst und Kollegin und wissenschaftliche Karriere hinter sich gelassen hat, um diesen Job zu übernehmen.

Was sich in der Nacherzählung so ausnimmt, als handle es bei „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ von Jacques Audiard um eine leicht modernisierte Variante eines Stationendramas a la Schnitzlers „Der Reigen“, überzeugt vor allem durch den Mut zu Leerstellen bei gleichzeitig immer wieder überraschender Dichte der Figurenzeichnung.

Wie Tinder, Internet-Pornografie und Chat-Rooms den Alltag verändern

Emelie, die ostentativ auf spontane Libertinage setzt und via Tinder den Markt sondiert, setzt, von Camille kurzerhand abserviert, auf „neue Regeln“ fürs gemeinsame Zusammenleben. Nora ist nicht nur nach Paris gezogen, um Jura zu studieren, sondern auch um eine schmerzhafte Familiengeschichte hinter sich zu lassen. Camille ist einerseits ein engagierter Lehrer, aber zuhause zugleich auch ein arroganter Schnösel, der für die Performancekunst seiner jüngeren Schwester nur herablassende Floskeln übrighat.

Lucie Zhang, Noemie Merlant und Makita Samba in einer weiteren Szene aus „Wo in Paris die Sonne aufgeht“.
Lucie Zhang, Noemie Merlant und Makita Samba in einer weiteren Szene aus „Wo in Paris die Sonne aufgeht“.

© dpa

Alles hier ist fluid. Die einzelnen Kapitel des Films scheinen wie ein Mobile gehängt, scheinbar freischwebend, aber doch verbunden und vernetzt durch zahllose Details. Denkt man sich noch all die modernen Kommunikationsmittel, Social Media, Tinder und andere hinzu, so entwirft „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ tatsächlich ein Sittengemälde über Identität in der modernen globalisierten Welt, in der es eine wesentliche Qualität ist, dass man sich permanent neu entwirft.

Das alles ist mit einer stupenden Leichtigkeit in wunderschönem Schwarz-weiß erzählt, was vielleicht damit zusammenhängt, dass dem Film drei Kurzgeschichten des US-amerikanischen Comicautors Adrian Tomine zugrundeliegen, wenngleich der in seinen jüngeren Werken auch in farbigen Bildern erzählt.

„Wo in Paris die Sonne aufgeht“ beschreibt ein urbanes Milieu, in dem sich unter den Bedingungen der aktuellen Medienrealität Begegnungen junger Erwachsener ereignen, die von der Kamera beobachtet werden. Glücklicherweise nimmt der Film die Welt von Tinder, Internet-Pornografie und Chat-Rooms nicht konventionell kulturkritisch in den Blick, sondern registriert lieber deren Auswirkungen auf den Alltag.

Dass ausgerechnet das Camgirl Amber Sweet diejenige Figur ist, die am verbindlichsten das Gespräch sucht, ist vielleicht die überraschendste Volte, die der Film schlägt. Sie hat sich ihren „Safe Place“ vor der Webcam unabhängig gestaltet und lässt sich mit Nora auf einen derart unverstellten und intensiven Erfahrungsaustausch ein, dass daraus eine Begegnung in der „realen“ Welt werden kann. Dieser Übersprung aus der Distanz der Bildschirme ist so märchenhaft, dass der Film selbst überrascht ins Farbige springt. (KNA)

Ulrich Kriest

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