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Eine Seite aus „Acting Class“.

© Blumenbar / Nick Drnaso

Die besten Comics des Jahres 2022: Provokant und vergnüglich, mutig und verstörend

Welches sind die besten Comics des Jahres? Das fragen wir unsere Leser:innen und eine Fachjury. Heute: Die Top-5 von Tagesspiegel-Autorin Birte Förster.

Von Birte Förster

Auch in diesem Jahr fragen wir unsere Leserinnen und Leser wieder, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren. Unter allen Einsendenden werden wertvolle Buchpakete verlost. Hier eine erste Auswahl der Ergebnisse und Informationen zu den Teilnahmebedingungen.

Parallel dazu ist wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt. Die besteht in diesem Jahr aus zehn Autorinnen und Autoren der Tagesspiegel-Comicseiten: Barbara Buchholz, Christian Endres, Birte Förster, Lara Keilbart, Rilana Kubassa, Moritz Honert, Sabine Scholz, Ralph Trommer, Lars von Törne und Erik Wenk.

Die Mitglieder der Jury küren in einem ersten Durchgang ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres, die in den vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Jeder individuelle Favorit wird von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt.

Welches sind in diesem Jahr die Top-Titel? Kurz vor Weihnachten steht das Jury-Ergebnis fest.
Welches sind in diesem Jahr die Top-Titel? Kurz vor Weihnachten steht das Jury-Ergebnis fest.

© Tagesspiegel

Daraus ergibt sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten oder mindestens zwei Nennungen landen. Diese Shortlist wird abschließend von allen acht Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergab sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die wieder kurz vor Weihnachten im Tagesspiegel veröffentlicht wird.

Die Favoriten von Tagesspiegel-Autorin Birte Förster

Platz 5: Tina Brenneisen: „True Stories“.
Mit ihrer Graphic Novel „True Stories – Marie Luis erzählt“ (Parallelallee) hat sich Comickünstlerin und Verlegerin Tina Brenneisen einiges vorgenommen. Auf nicht einmal 100 Seiten liefert sie einen Querschnitt durch etliche Themen, die die Gesellschaft bewegen, und verknüpft diese mit der Fiktion. Ironisch, zuweilen provokant und mit einer Prise Humor beleuchtet sie in mehreren kurzen Episoden etwa den Klimawandel, Nahrungsknappheit oder die Genderdebatte. Kritisch setzt sie sich dabei vor allem auch mit Geschlechterrollen auseinander.

Ihre Wahrheit: Die Erzählerin Marie Luis in einer Szene aus „True Stories“.
Ihre Wahrheit: Die Erzählerin Marie Luis in einer Szene aus „True Stories“.

© Parallelallee

Dabei findet sie zu einer expressiven Bildsprache mit kraftvoller Kolorierung und außergewöhnlichen Perspektiven. Ihr skizzenhafter Strich verleiht den Figuren eine beeindruckende Lebendigkeit, vor allem Protagonistin Marie Luis. Die viel gereiste, ehemalige Matrosin ist es nämlich, die die Geschichten erzählt und selbst erlebt hat. Oder auch nicht? Ganz sicher sein kann man sich nie, ob ihre Schilderungen stimmen oder einfach erfunden sind. Dieses Verwirrspiel rund um Wahrheit und Lüge macht den Reiz der Graphic Novel aus.     

Platz 4: Pénélope Bagieu: „Schichten“.
In ihrer autobiografischen Graphic Novel „Schichten“ (Reprodukt) erzählt die französische Comickünstlerin Pénélope Bagieu aus ihrem Leben. Und das macht sie sehr schwungvoll und vergnüglich. In kürzeren und längeren Episoden greift sie Erinnerungen aus Kindheit, Jugend und ihrem Leben als Erwachsene auf. Dass sie dabei nicht chronologisch vorgeht, sondern bewegende Erlebnisse aus allen Lebensphasen aneinanderreiht, verleiht der Lektüre viel Dynamik.

Eine Seite aus „Schichten“.
Eine Seite aus „Schichten“.

© Reprodukt

Mal ist es ihre anhängliche, inkontinente Katze Rauchi, die über einige Seiten hinweg die Panellandschaft für sich einnimmt. Mal sind es ihre – nicht immer erfolgreichen – amourösen Bestrebungen, von denen Bagieu turbulent erzählt. Genauso geht es um Konflikte in der Freundschaft, ihr fehlendes sportliches Talent und ihren Horror vor kalten Füßen. Aber auch ernste Themen wie den Tod der Großmutter oder sexuelle Belästigung in der Pariser Métro klammert sie nicht aus.

All das vermittelt Bagieu pointiert in locker-leichten Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Die expressive Mimik und Gestik ihrer Figuren sorgt dabei zumeist für eine besondere Komik. Mit ihrem Comic macht sie deutlich, dass Scheitern zum Leben dazugehört und sie sich trotzdem nicht von ihrem Weg abbringen lässt.  

Platz 3: Philipp Deines: „Die 5 Leben der Hilma af Klint“.
Erst seit ein paar Jahren erfährt die schwedische Malerin Hilma af Klint eine größere öffentliche Anerkennung. Eine Ausstellung ihrer Werke im New Yorker Guggenheim-Museum sprengte 2018 alle Besucherrekorde. Zurecht. Denn anders als bisher angenommen war es Hilma af Klint, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die ersten abstrakten Bilder malte. Aus gutem Grund widmet sich daher der Berliner Künstler Philipp Deines in seiner Graphic Novel „Die 5 Leben der Hilma af Klint“ (Hatje Cantz) Leben und Wirken dieser Pionierin der abstrakten Kunst.

Eine Doppelseite aus „Die 5 Leben der Hilma af Klint“. 
Eine Doppelseite aus „Die 5 Leben der Hilma af Klint“. 

© Hatje Cantz

Dabei beschränkt er sich nicht nur auf wichtige Ereignisse und Lebensabschnitte, sondern setzt sich auch mit ihrem Inneren auseinander, ihren Gedanken und ihrer Wahrnehmung der Welt. Geschickt nutzt er das Medium Comic, um ihren Schaffensprozess grafisch nachzuempfinden. Speed Lines und Bewegungsphasen lassen erahnen, mit welch ungebremster Energie Farben und Formen geradezu aus ihr herausbrechen.

Gleichzeitig setzt Deines wunderbar eigene künstlerische Akzente. Etwa wenn er Hilma af Klint mit ihren floralen und geometrischen Gebilden in ganz- oder doppelseitigen Grafiken verschmelzen lässt. Dann sticht auch er als Künstler heraus. Und bringt zugleich die vielen Facetten der Hilma af Klint zum Vorschein. Einer modernen Frau, die dem Zeitgeist voraus war.

Platz 2: „Sonja Eismann, Maya und Ingo Schöningh: Movements and Moments: Indigene Feminismen“.
Die Ziele der feministischen Bewegung sind in den Ländern des globalen Südens oft andere als hierzulande. Neben dem Kampf der Frauen um Selbstbestimmung geht es auch um den Respekt indigener Kulturen und den Schutz der Umwelt. Wie die Feministinnen dieser Länder um ihre Rechte kämpfen, zeigt eindrücklich die Comic-Anthologie „Movements and Moments – Indigene Feminismen“ (Jaja-Verlag).

Eine Doppelseite aus „Movements and Moments“.
Eine Doppelseite aus „Movements and Moments“.

© Jaja

In einem großangelegten Projekt hat das Goethe-Institut Indonesien Comickünstlerinnen in den Ländern des globalen Südens dazu aufgerufen, Comics über die dortigen feministischen Bewegungen zu erstellen. Entstanden ist eine erstaunliche Vielfalt der Themen und Stile.

Die Comics erzählen von Unterdrückung und Widerstand, von der Freiheit, die eigene sexuelle und geschlechtliche Identität offen auszuleben oder von der Macht großer Konzerne und der Zerstörung indigener Territorien. Die Farben, in denen die Comics grafisch Gestalt annehmen, sind mal gedeckt, mal kräftig und leuchtend, mit wenigen Strichen oder detailliert gezeichnet. Der Band zeigt, wie mutig die Frauen dieser Länder unter schwierigen Umständen für ihre Rechte einstehen. Und dadurch Veränderung schaffen.

Platz 1: Nick Drnaso: „Acting Class“.
Irgendwie ist einem zuweilen danach, den Comic einfach wegzulegen. Derart beklemmend, unangenehm und fast schon verstörend ist die Atmosphäre in Nick Drnasos Graphic Novel „Acting Class“ (Blumenbar). Aber zugleich übt genau das eine solche Faszination aus, die einen ergreift und nicht mehr loslässt.

Eine Seite aus „Acting Class“.
Eine Seite aus „Acting Class“.

© Blumenbar / Nick Drnaso

Die Rahmengeschichte wirkt erst einmal recht harmlos: In einem Schauspielkurs treffen zehn Frauen und Männer aufeinander. Die meisten von ihnen sind verlorene Figuren auf Sinnsuche. In Improvisationen und Schauspielübungen werden sie nicht nur mit ihrem Gegenüber, sondern auch mit sich selbst konfrontiert. Wünsche, Ängste und bislang verborgene, dunkle Seiten kommen dabei zum Vorschein. Immer mehr lösen sich dabei die Grenzen zwischen Realität und Imagination auf. Es lässt sich kaum noch auseinanderhalten, wo das Spiel aufhört und das reale Leben beginnt – weder für die Figuren noch für die Leser:innen.

Derweil werden sie zunehmend in albtraumhafte Geschehnisse verwickelt. Die düstere Stimmung wird zusätzlich durch Drnasos Zeichenstil befeuert. Geometrische Linien sowie matte, dunkle Farben lassen ein steriles und trostloses Setting entstehen. Die mechanisch anmutende Gleichförmigkeit verstärkt ein Gefühl des Unbehagens. Meisterhaft hantiert Drnaso mit unterschiedlichen Szenen, Konstellationen und Erzählebenen und führt diese geschickt zusammen. Nach seiner Graphic Novel „Sabrina“ hat Nick Drnaso mit „Acting Class“ ein weiteres, erstaunliches Werk erschaffen. Dramaturgisch vielschichtig, grafisch überzeugend und virtuos erzählt.        

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