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Eine Seite aus „Unruhe“.

© Jaja-Verlag

Graphic Novel zu Verschwörungstheorien: Wenn die Postfrau x-mal klingelt

Sarah Hübner analysiert in ihrem herausragenden Comic-Debüt „Unruhe“ mit Witz und Scharfsinn die Dynamik von Verschwörungsmythen. Das macht ihr Buch relevant und unterhaltsam.

Stand:

Das abgelegene Bergdorf Ruhe wird seinem Namen gerecht, das Leben hier ist friedlich und vorhersehbar. Bis sich eines Tages mitten im Ort ein gigantisches Loch von der Größe mehrerer Häuser auftut. Dessen Herkunft ist zumindest am Anfang mysteriös, es lässt sich nicht mehr zuschütten, das macht den Menschen Angst.

Zwar erklären kurz darauf Geologen das Phänomen als höchstwahrscheinliche Folge eines Erdrutschs. Doch eine wachsende Zahl von Bewohnerinnen und Bewohnern des Dorfes will sich damit nicht zufriedengeben.

Eine Doppelseite aus dem besprochenen Buch.

© Jaja-Verlag

Sie suchen nach eigenen Erklärungen, bezweifeln die Expertise der Fachleute und suchen nach vermeintlichen Profiteuren der Lage. Mit der Graphic Novel „Unruhe“ legt die Wismarer Comiczeichnerin Sarah Hübner eine smarte und zeichnerisch souveräne Comic-Erzählung zum Thema Verschwörungstheorien vor, verpackt in die Form eines mit subtilem Witz gespickten Dorf-Dramas.

Die schwarzen Buntstift-Zeichnungen der 1998 geborenen Illustratorin, die mit diesem Projekt kürzlich ihr Kommunikationsdesign-Studium in Wismar abgeschlossen hat, sind skizzenhaft, aber handwerklich versiert. Der Strich ist weitgehend sachlich-naturalistisch mit gelegentlichen expressionistischen Elementen.

Die Figuren und der Plot sind klug angelegt und das Ergebnis von umfangreichen Recherchen, wie die Autorin kürzlich bei einer Präsentation auf dem Festival Comicinvasion Berlin vermittelte.

Händchen für lebendige Figuren mit menschlichen Marotten

Sie hat sich für ihr Projekt ausführlich damit beschäftigt, wieso Menschen in Ausnahmesituationen zu irrationalen Erklärungen neigen und welche Dynamik Verschwörungsmythen entfalten können – von der Corona-Zeit bis hin zu den abenteuerlichen Erzählungen über den Verbleib der englischen Prinzessin Kate während ihrer Krebserkrankung.

Vor allem aber ist Hübner eine starke Erzählerin und hat ein Händchen für lebendige Figuren mit menschlichen Marotten. Ihre Hauptfigur ist eine Briefträgerin, die einmal in der Woche mit der Seilbahn nach Ruhe kommt, dort jeden kennt und durch ihren Job Zugang zu allen Bewohnerinnen und Bewohnern des Ortes hat.

Die Seilbahn als Wurzel allen Übels

Als das Drama seinen Lauf nimmt, vermittelt Hübner mithilfe der Postbotin ein Kaleidoskop an unterschiedlichen Verhaltensweisen, wie die Menschen mit der ungewöhnlichen Situation umgehen.

Eine Bewohnerin verkauft Lichtscheinamulette gegen „Tiefenpartikel“, ein anderer meint Indizien für eine gefährliche Ausbreitung des Lochs zu haben. Und eine besonders radikale, schnell wachsende Gruppe sieht die Seilbahn als Wurzel allen Übels und wittert in jedem Außenstehenden einen Feind.

Die Briefträgerin ist die Hauptfigur der Erzählung.

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Während die Bewohnerschaft sich zunehmend in unterschiedliche Fraktionen spaltet und wilde Spekulationen immer mehr zu vermeintlichen Gewissheiten werden, macht sich die Briefträgerin mit detektivischem Spürsinn auf die Suche nach den Urhebern der Angst.

Zeichnerisch setzt Hübner auf einen sachlichen Strich, der durch originelle grafische Ideen angereichert wird. Die Dominanz des Loches in den Dialogen im Ort veranschaulicht sie zum Beispiel dadurch, dass sich in den Sprechblasen schwarze Kringelflächen vor alle anderen Themen drängen.

Die Situation gerät außer Kontrolle

Emotionale Erschütterungen ihrer Figuren vermittelt sie durch flatterhafte Linien, mit denen ihre Gesichter gezeichnet werden. Und die vielen Haustüren, an denen die Postbotin wieder und wieder klingelt, sind durch originelle Klingelschilder gekennzeichnet, die etwas über die jeweiligen Menschen aussagen.

Anschaulich vermittelt Hübner, wie die Situation nach und nach außer Kontrolle gerät. In Person der Briefträgerin verhandelt sie zudem die Frage, wie ein vernünftiger Umgang mit derartigen Dynamiken aussehen kann und wieweit diese sich überhaupt wieder einfangen lassen.

Eine weitere Doppelseite aus „Unruhe“.

© Jaja-Verlag

„Unruhe“ ist nicht der erste Comic, der in jüngster Zeit zum Thema Verschwörungstheorien erschienen ist. So hat Ika Sperling vor gut einem Jahr das Thema in ihrem autobiografisch geprägten Werk „Der große Reset“ verarbeitet.

Und 2022 wurde die Problematik bereits im Sachcomic „Glauben Sie an die Wahrheit?“ von der französischen Autorin Doan Bui und der Zeichnerin Leslie Plée behandelt.

Im Vergleich zu diesen weitgehend sachlichen, an der Realität orientierten Herangehensweisen hat Sarah Hübner einen eher parabelhaften und ganz eigenen Zugang zum Thema gefunden.

Der macht ihr Buch neben seiner Relevanz auf der Sachebene zu einer unterhaltsamen Lektüre – und zu einem der besten deutschen Comicdebüts der vergangenen Jahre.

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