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© Illustration: Ross/Panini

Graphic Novels: Heldendämmerung

Wie geht es eigentlich normalen Menschen in einer von Superhelden bevölkerten Welt? Diesen Gedanken spielen jetzt gleich zwei Neuerscheinungen durch – eine selbstironische Liebesgeschichte und ein wiederaufgelegtes episches Comicdrama.

Superhelden nerven. Vor allem, weil zu ihnen qua Genre-Naturgesetz ja auch die Superschurken gehören. Und wenn sich beide mal wieder beharken, pulverisieren sie gerne ganze Straßenzüge, schmeißen mit Autos und U-Bahnzügen um sich oder schicken Feuerwalzen und Flutwellen durch die Stadt, während der Normalbürger doch eigentlich nur zur Arbeit fahren oder ein ungestörtes Rendezvous haben wollte.

Es gibt fast keine Geschichte, die nicht schon mit den Mitteln des Superheldencomics erzählt worden ist. Nur wie es den kleinen Leuten geht, den Menschen, die fassungslos in den Himmel starren, wenn sich da oben mal wieder zwei nie so richtig erwachsen gewordene Mutanten in leuchtenden Strumpfhosen bekriegen, das liest man in klassischen Genrestorys so gut wie nie. Dabei kann der Blick der im Heldenepos zu Statisten Degradierten durchaus bereichernd sein. Und unterhaltsam obendrein, wie jetzt gleich zwei bemerkenswerte Bücher beweisen.

Und dann beginnt auch noch die Katze zu sprechen

In „Liebe und Helden“ führt der Amerikaner Andi Watson auf charmante Weise vor, dass Superheldengeschichten auch reflektiert, erwachsen und selbstironisch sein können – in dieser Sparte eine eher seltene Mischung.

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Konkurrenzkampf. Die Allgegenwart der Helden führt in "Liebe + Helden" zu Konflikten.

© Illustration: Watson/Modern Tales

Seine mit 320 Seiten schon vom Umfang her beeindruckende Graphic Novel handelt von Jack und Nora, zwei Allerweltsmenschen, die zwei ganz normale Allerweltsgroßstadtleben leben würden – wenn nicht ständig profilneurotische Superhelden und übermenschliche Schurken auf den Straßen von Jacks und Noras Heimatstadt ihre Revierstreitigkeiten ausfechten würden. Und dann legt sich auch noch Jacks Katze ein Cape um, fängt an zu sprechen um und entwickelt größenwahnsinnige Züge.

Vor diesem Hintergrund entwickelt Watson ausführlich, aber mit gutem Timing eine komplexe Geschichte um eine große Helden-Verschwörung und deren Auswirkungen auf den Alltag der Hauptfiguren, zu der sein schlicht wirkender Schwarz-Weiß-Stil gut passt. Jack und Nora werden wider Willen in den Strudel der Ereignisse gezogen. Das vom Beginn des Buches an offensichtliche Interesse der beiden aneinander wird auf harte Proben gestellt – auch weil sie sich angesichts der omnipräsenten Superkräfte um sie herum erst langsam auf ihre eigenen Stärken besinnen.

Der Leser ist immer dabei, wenn es kracht

Die Schwierigkeiten eines normalen Lebens unter völlig anormalen Umständen sind auch das Thema eines Genre-Klassikers, der jetzt neu aufgelegt wurde. Die 1994 erstmals veröffentlichte Erzählung „Marvels“ von Kurt Busiek und Alex Ross ist mit ihren opulenten Comic-Gemälden optisch das genaue Gegenteil des wie ein selbstverlegtes Independent-Comic daherkommenden Buches „Liebe und Helden“. Inhaltlich jedoch weist das einst als vierteilige Serie veröffentlichte Werk frappierende Parallelen auf.

In diesem von Ross mit grandiosen, vor dramatischen Formen und Farben strotzenden Bilderfolgen gespickten Meisterwerk rollt Autor Busiek die Geschichte der wichtigsten Marvel-Heldenfiguren von hinten auf – verpackt in eine hyperrealistisch wirkende zeitgeschichtliche Erzählung, in der die sozialen und politischen Umstände der 1940er bis in die 70er Jahre mindestens so wichtig sind wie die Heldengeschichten, die aus ihnen erwuchsen.

Auch wenn sich hier klassische Helden wie die menschliche Fackel oder der Sub-Mariner, Captain America oder später Spider-Man und Daredevil ein Stelldichein geben, ist die vielfach preisgekrönte Geschichte doch konsequent aus der Sicht derjenigen Menschen beschrieben, die mit den Superhelden und den oft fatalen Folgen ihres egozentrischen Agierens zurechtkommen müssen. Im Zentrum stehen der Reporter Phil Sheldon und seine Familie, sodass der Leser immer dabei ist, wenn es irgendwo kracht – aber dabei auch die immer wiederkehrenden Zweifel des Ich-Erzählers an der unkontrollierten Dominanz der Superhelden und der ambivalenten Reaktion der Menschen auf ihr Treiben miterlebt. In spektakulären Bildern vermittelt Ross ein Gefühl dafür, was es heißt, als Sterblicher durch eine Straße zu laufen, in der gerade zwei kämpferische Sagengestalten die Erde erzittern lassen und Naturgewalten entfesseln, ohne auf die Menschen am Boden zu achten.

„Marvels“ und „Liebe und Helden“ nähern sich auf sehr unterschiedliche Weise dem gleichen Thema. Und schaffen - im einen Fall mit verspielter Ironie und einer unterschwelligen Liebesgeschichte, im anderen mit sozialkritischem Pathos und atemberaubenden Bildern - etwas, das viele der infantilen Mainstream-Werke dieses Genres zumindest bei erwachsenen Lesern meist nicht mehr erreichen: Ein wenig von jener Faszination wiederzubeleben, die einen einst als Kind befiel, wenn man einen Superhelden-Comic zur Hand nahm.

Andi Watson: Liebe und Helden, Modern Tales, 320 Seiten, 28 Euro.
Kurt Busiek und Alex Ross: Marvels,
Panini, 212 Seiten, 19,95 Euro.

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