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Piratencomic „Long John Silver“: Meuterei auf der Neptune

Gute Nachrichten für alle, die genug von Johnny Depps Herumgehampel als Captain Jack Sparrow haben: Nach langer Wartezeit ist das finale vierte Album des herausragenden Piratencomics „Long John Silver“ erschienen.

Piraten sind schon immer eine gefragte Gattung im weiten Ozean des Abenteuergenres – und damit auch innerhalb des Abenteuercomics. Zwar sind sie in unserer modernen Welt bei Weitem nicht so angesagt wie in der Meta-Fiktion von Alan Moores Comic-Meilenstein „Watchmen“ – trotzdem muss man nicht allzu lange durch die Regalreihen beim Comicdealer des Vertrauens segeln, bis man einen Korsaren-Klassiker, eine Freibeuter-Neuauflage oder eine Seeräuber-Novität mit fast so vielen Säbeln und Entermessern wie Panels und Sprechblasen findet.

Der letzte große Pirat

Außerhalb der Welt der Comics erfreuen sich Piratengeschichten seit 2003 gleichfalls wieder größerer Beliebtheit, nachdem Disney aus seiner betagten Fahrgestell-Attraktion „Pirates of the Caribbean“ unter Aufsicht von Blockbuster-Produzent Jerry Bruckheimer ein Film-Franchise für den Mainstream generiert hat. Allerdings ist Johnny Depp als Captain Jack Sparrow zugleich Fluch wie Segen der neuzeitlichen filmischen Piratenabenteuer im großen Stil und auf der großen Leinwand. Denn irgendwann kann man sein Herumgehampel, Herumgekasper und Herumgeschwinge einfach nicht mehr ertragen, ist das Ganze nicht länger bloß ein humoristischer Kontrast zu den eingänigen Szenen der etwas zu modernistischen, jedoch unbestreitbar unterhaltsamen Streifen, sondern schlichtweg nerviger Klamauk unter der Flagge der nordamerikanischen Disney Multimedia Handelskompanie. Gut, dass es neben den Popcorn-Piraten aus der Karibik noch die ernsthaften Panel-Piraten in „Long John Silver“ gibt.

Episches Finale: Eine Szene aus dem jetzt erschienenen vierten Band.
Episches Finale: Eine Szene aus dem jetzt erschienenen vierten Band.

© Carlsen

Xavier Dorison und Mathieu Lauffray („Prophet“) setzen mit ihrer stimmungsvollen, in grandiosen Bildern umgesetzten Comicserie lose Robert Louis Stevensons vielfach verfilmten und mannigfaltig sonst wie adaptierten Abenteuerromanklassiker „Die Schatzinsel“ fort, wobei sie gleich im ersten Album darauf hingewiesen haben, dass es ihnen vor allem darum geht, den Geist von „Die Schatzinsel“ einzufangen, der die Pariser Künstler seit ihrer Kindheit verfallen sind – und nicht um eine logische Fortführung des populärsten Piraten-Szenarios aller Zeiten. Nichtsdestotrotz bedienen sie sich fleißig am Personal des Klassikers, indem sie Long John Silver, den legendären letzten großen Piraten, als Titelhelden zu ihrem konfliktbeladenem Ensemble hinzufügen.

Alte Bekannte aus der „Schatzinsel“

Ein weiterer wichtiger Teil der Crew von „Long John Silver“ ist Dr. David Livesey – ebenfalls ein alter Bekannter aus „Die Schatzinsel“, das zwischen 1881 und 1882 zunächst in serialisierter Form erschien und im Original erstmals 1883 als „Treasure Island“ zwischen zwei Buchdeckeln gesammelt wurde. Der höchst anständige Doktor aus Stevensons Über-Piratenmär fungiert bei Dorison und Lauffray als Chronist und narrative Erzählstimme und bringt den in die Jahre gekommenen Silver auf Drängen der Dame mit der intriganten Lady Vivian Hastings zusammen. Dass diese ihrem abwesenden Mann Lord Hastings untreu war und schwanger wurde, ist im Übrigen noch das Uninteressanteste an ihr. Viel interessanter ist, dass ihr Gatte auf seiner Expedition in den Amazonas die sagenhafte Urwaldstadt Guyanacapac gefunden hat – und seine Ehefrau bittet, in der Heimat eine zweite Expedition finanzieren zu lassen, um das Gold der Inka zu bergen.

So verlässt die Neptune mit Lady Hastings, Dr. Livesey, Long John Silver und diversen Brüdern der Küste an Bord tatsächlich Bristol. Von dort aus geht es über den rauen Atlantik und bis ins südamerikanische Fluss-Labyrinth, stets auf der Jagd nach dem verloren gegangenen Aztekengold der sagenumwobenen Stadt Guyanacapac. Unterwegs zetteln Silver und seine Jungs auf hoher See eine Meuterei an und übernehmen das Kommando. Fortan kämpft der alte Haudegen mit dem Holzbein bis zum letzten Atemzug und bis aufs Blut für das versprochene Gold, für die Ehre, für seine Kameraden aus der Schwarzen Bruderschaft, und nicht zuletzt für seine Auftraggeberin Lady Hastings.

Atmosphärisches Finale in fremden Gezeiten

Am Ende finden sie in Guyanacapac mehr, als sie erwartet haben, und „Long John Silver“ bekommt im vierten und letzten Album einen ordentlichen Schuss Fantasy-Rum eingeschenkt, wenn fremde Gottheiten und riesige Leguane die Bildfläche und ferner die zyklopisch anmutende Urwaldstadt im Amazonasgebiet betreten, die als beeindruckende Kulisse für den unerwarteten Abschluss der letzten Fahrt des Long John Silver dient. Diese Fantasy-Note, die lediglich auf dem Papier an „Pirates of the Caribbean“ und vom Amazonas-Setting her an dessen vierten Teil „Fremde Gezeiten“ bzw. die Roman-Inspiration zum Film von Genre-Kultautor Tim Powers erinnert, schadet dem Comic keineswegs, obwohl sich Piraten-Puristen möglicherweise daran stören werden.

Intrigante Lady: Neben Long John Silver spielt auch Vivian Hastings eine wichtige Rolle - hier eine Szene aus dem Abschlussband.
Intrigante Lady: Neben Long John Silver spielt auch Vivian Hastings eine wichtige Rolle - hier eine Szene aus dem Abschlussband.

© Carlsen

Nichtdestotrotz rauscht „Long John Silver“ mit aufgeblähten Segeln und voller Kraft durch den Piratencomic-Ozean: Die Geschichte ist dicht und düster und derb und atmosphärisch, und das Artwork von Lauffray, der schon als Designer an Filmen wie „Pakt der Wölfe“ oder „Vidocq“ gearbeitet hat und als Coverzeichner für zahlreiche „Star Wars“-Comics beim US-Verlag Dark Horse in Erscheinung trat, schlichtweg atemberaubend gut. „Guyanacapac“ ist ein episches, würdiges Finale für ihre packende Geschichte und die von ihnen aufgegriffene und dabei noch ein bisschen unsterblicher gemachte Legende des wohl berühmtesten Piraten der Literaturgeschichte – und trotz Blockbuster-Konkurrenz in anderen Medien das beste und kraftvollste moderne Piraten-Abenteuer seit Langem. Oder um dann doch noch mal Captain Jack Sparrow zu zitieren: Klar soweit? Aye!

Xavier Dorison und Mathieu Lauffray: Long John Silver, Carlsen, in vier Bänden abgeschlossen, jeweils 64 Seiten, je 12 Euro.

Der Blog unseres Autors Christian Endres findet sich hier: www.christianendres.de.

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