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Zwischen Trauma, Trauer und Tagtraum: Eine Seite aus dem Buch.

© Illustration: Lemire/Edition 52

Graphic Novel: Schöner Schmerz

Nur wenige Autoren verbinden Elemente des Mainstream und der Comic-Avantgarde so gekonnt wie Jeff Lemire. Jetzt wird das Werk des vielfach ausgezeichneten Kanadiers endlich ins Deutsche übersetzt.

Futtersilos, Traktoren und endlose Maisfelder sind nur selten die Kulisse für anspruchsvolle Comicerzählungen. Als Hintergrund für visuell packende Storys machen Großstädte einfach mehr her als beschauliches Bauernland. Aber es geht auch anders. Das beweist seit Jahren der kanadische Autor und Zeichner Jeff Lemire. Er hat viele seiner sensiblen Dramen im Süden Ontarios angesiedelt, in der halbfiktiven Region Essex County. Die ist der von Landwirtschaft geprägten Gegend zwischen Toronto und der US-Grenze nachempfunden, in der der heute 34-Jährige einst aufwuchs.

Jetzt ist mit „Geschichten vom Land“ der erste Band von Lemires Essex-Trilogie im Verlag Edition 52 auf Deutsch erschienen. Es ist, wie auch die beiden ebenfalls für die deutsche Übertragung vorgesehenen Folgebände, ein künstlerisches und erzählerisches Meisterwerk.

Keine Linie gleicht der anderen

Mit rauem, flüchtig wirkenden und doch fein ausdifferenziertem Strich erzählt Lemire die von magischem Realismus durchdrungene Geschichte eines Jungen, der nach dem Tod seiner Mutter auf dem Bauernhof des wohlmeinenden, aber überforderten Onkels aufwächst und versucht, mit seinen schwierigen Gefühlen klarzukommen. Trauer und Schmerz, Ärger und Einsamkeit bestimmen Lesters Leben, aber auch aufregende Tagträume und die zaghaft wachsende Freundschaft zu einem ehemaligen Eishockeyspieler, dessen Leben ebenfalls aus der Bahn geraten ist.

In ruhigen, oft wortlosen Szenen schildert Lemire, wie der meist mit Superheldenmaske und rotem Cape bekleidete Junge und sein Onkel nebeneinanderher leben, aber emotional nur schwer zueinander finden. Lemires Strich ist bis in die Sprechblasen hinein individuell und auf die jeweilige Atmosphäre abgestimmt, keine Linie gleicht der anderen – was in der deutschen Ausgabe durch die vom Verlag gewählte Computerschrift in den Sprechblasen leider nicht konsequent übertragen wurde. Auch als Erzähler findet Lemire sprachlich seinen ganz eigenen, zurückhaltenden Ton und lässt seine Figuren in präzisen, knappen Dialogen und vielen stillen Beobachtungen lebendig werden.

Auf dem Weg an die Spitze. Jeff Lemire gilt als einer der vielversprechendsten Newcomer der nordamerikanischen Comicszene.
Auf dem Weg an die Spitze. Jeff Lemire gilt als einer der vielversprechendsten Newcomer der nordamerikanischen Comicszene.

© Lars von Törne

Mit der deutschen Übertragung seines frühen Meisterwerkes – Lemire war Ende 20, als er seine Trilogie begann – kann man nun auch hierzulande einen großen Comicautor kennen lernen, der wie nur wenige andere nordamerikanische Künstler Elemente des künstlerisch anspruchsvollen Avantgarde-Comics mit einem am Mainstream geschulten Storytelling zu verbinden weiß.

Das zeigt sich vor allem im zweiten Teil der Essex-Trilogie, der bereits in diesem Winter bei Edition 52 unter dem Titel „Geistergeschichten“ erscheinen soll und der den ersten Band an künstlerischem und erzählerischem  Tiefgang noch übertrifft.

Einstand bei DC mit „Superboy“- und „The Atom“-Geschichten

In Nordamerika haben inzwischen auch die großen Verlage Lemires Talent erkannt: Durch die vom Film Noir und von H.G. Wells' „The Invisible Man" inspirierte Erzählung „The Nobody“ (Tagesspiegel-Rezension unter diesem Link), vor allem aber durch seine seit vergangenem Jahr bei Vertigo laufende Serie „Sweet Tooth“, in der ein mutierter Junge durch eine postapokalyptische Welt irrt, hat sich der Kanadier weit über die Independent-Szene hinaus einen Namen gemacht, der Superman- und Batman-Verlag DC heuerte ihn als Autor an.

Stille Beobachtungen. Viele Szenen bei Lemire kommen ohne Worte aus.
Stille Beobachtungen. Viele Szenen bei Lemire kommen ohne Worte aus.

© Illustration: Lemire/Edition 52

Vor kurzem erschienen die ersten „Superboy“- und „The Atom“-Folgen aus Lemires Feder. Auch wenn Superhelden-Fans diesen Geschichten einen ungewohnten, erwachseneren Ton attestieren: Im Vergleich zu seinen ganz eigenen Erzählungen sind Lemires von anderen Zeichnern umgesetzte Superhelden-Geschichten weichgespült und sprechen primär jüngere Leser an.

Die gute Nachricht für Fans seiner individuelleren und anspruchsvolleren Werke: Lemire arbeitet nebenher bereits an einer weiteren Graphic Novel, die dann wieder auch zeichnerisch seine ganz eigene Handschrift tragen soll.

Jeff Lemire: Geschichten vom Land, Edition 52, 1123 Seiten, 11 Euro, zur Verlags-Homepage geht es hier. Zu Lemires Website mit einem Verzeichnis aller seiner Titel geht es hier, sein Blog ist hier zu finden, die von ihm verfassten DC-Titel und Interviews zum Thema findet man hier.

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