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Kampf auf der Straße. Anhänger des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro demonstrieren mit ihren Autos gegen Ausgangsbeschränkungen in Porto Alegre.

© Reuters/Diego Vara

Coronakrise spaltet Brasilien: Kampf gegen das Virus, Widerstand gegen Bolsonaro

Reiche Menschen können zu Hause bleiben, Arme sollen arbeiten. Viele Brasilianer empfinden die Politik ihres Präsidenten als zynisch. Ein Gastbeitrag.

Angélica Freitas, geboren 1973, ist eine brasilianische Lyrikerin, Journalistin und Herausgeberin. Ihre Gedichte sind ins Deutsche, Spanische, Schwedische, Rumänische und Englische übersetzt worden. 2020 soll sie als Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD nach Berlin kommen.

Zuletzt erschien auf Deutsch „rilke shake“ (Luxbooks, 2011). Sie lebt in Pelotas, Rio Grande do Sul, Brasilien. Übersetzung aus dem brasilianischen Portugiesischen von Odile Kennel.

„Ist doch bloß eine kleine Grippe.“ – „Brasilianern passiert noch nicht mal was in der Kanalisation.“ – „Wir sterben alle irgendwann.“

Das sind die Worte des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Von Anfang an hat er die Pandemie geleugnet. Ungeachtet der Empfehlungen brasilianischer und internationaler Gesundheitsbehörden besteht er darauf, auf der Straße Leuten die Hände zu schütteln.

Den Nachweis seiner Covid-19-Testungen möchte er allerdings nicht öffentlich machen (mindestens 25 Regierungsmitglieder wurden inzwischen positiv getestet). Ihm könne das Virus nichts anhaben, behauptete er. Schließlich sei er früher Sportler gewesen.

Ich schaue aus dem Fenster und bin erstaunt, wie viele Menschen sich in meinem Mittelklasseviertel in São Paulo an die Ausgangssperre halten. Vielleicht, weil der Gouverneur des Bundesstaates São Paulo dem Präsidenten widersprochen hat und die Bevölkerung bittet, zu Hause zu bleiben.

In drei Wochen bin ich nur dreimal rausgegangen. Um einzukaufen. Fernseher, Handy, Computer – ununterbrochen tauschen wir Erfahrungen und Informationen aus. Wir wissen, dass die Zahl der Opfer zu niedrig angegeben wird. Mindestens tausend Menschen sind in Brasilien bis jetzt an dem Virus gestorben.

Es ist bezeichnend, dass das erste Opfer der Pandemie in Rio de Janeiro eine Hausangestellte war. Sie starb am 17. März mit 63 Jahren, war Diabetikerin und litt an Bluthochdruck. Ihre Arbeitgeberin lebt im sehr wohlhabenden Stadtteil Leblon und war von einer Italienreise zurückgekehrt.

Als das bekannt wurde, twitterte jemand: Casa-grande e senzala, „Herrenhaus und Sklavenhütte“, und spielte damit auf die Sklavenhaltergesellschaft an, die Brasilien einmal war. Die Folgen sind bis heute zu spüren.

Es ist auch der Titel eines Buches des Anthropologen Gilberto Freyre, in dem er aufzeigt, dass die soziale und politische Ordnung des Landes auf diese zwei Orte zurückgeht. Wer das Land besaß, besaß auch alles, was sich darauf befand: Häuser, Frauen, Tiere, Sklaven.

Ein extrem gespaltenes Land

Bis heute existieren in Wohnhäusern der Mittelklasse zwei Aufzüge: der elevador social, der „standesgemäße“ Aufzug – für die Hausherren –, und der für die Bediensteten. Oft wurde ich, wenn ich den Bedienstetenaufzug nehmen wollte, vom Hausmeister eines solchen Wohnhauses angesprochen – meist ein Mann, meist arm, seine Aufgabe besteht unter anderem darin, Fremden, insbesondere armen Fremden, den Eintritt ins Gebäude zu verwehren: „Nein, Senhora, warten Sie, der elevador social ist gleich da.“

[Verfolgen Sie in unseren Liveblogs die aktuellen Entwicklungen zum Coronavirus in Berlin und zum Coronavirus weltweit.]
Falls Sie nicht wissen sollten, was eine Hausangestellte ist: Meist handelt es sich um eine Frau, sehr oft eine schwarze Frau, die all das im Haushalt erledigt, was man selbst nicht erledigen will oder kann (um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, kann man sich mit dem Arbeitsplatz herausreden, den man schafft). Sie macht das Bett, kocht, spült, geht mit dem Hund spazieren.

Hausangestellte haben keinerlei soziale Absicherung, eine Situation, die sie mit 40 Prozent der Brasilianer teilen. In Zeiten der Coronakrise ist das erst recht mehr als prekär. Am 30. März hat der Kongress eine Nothilfe für den informellen Sektor beschlossen, doch wochenlang wurde das Geld nicht ausgezahlt. Es geht um 600 BRL monatlich (ungefähr 104 Euro, wobei der Mindestlohn bei 1045 BRL/182 Euro liegt).

Autodemonstrationen gegen Bolsonaro

Ich suche nach einer Erklärung für diese Verzögerung, lese Zeitungen, frage auf Twitter unter #pagalogobolsonaro (sofort bezahlen, Bolsonaro): „Warum gibt Bolsonaro das Geld nicht frei?“ Meine Freunde antworten: „Reine Böswilligkeit.“ Die Erklärung der Regierung: Dem Kongress müsse eine sogenannte vorläufige Maßnahme vorgelegt werden, um eine außerordentliche Kreditaufnahme zu ermöglichen. Wie soll man das jemandem erklären, der nichts mehr zu essen hat?

Jair Bolsonaro regiert so, dass es dem Herrenhaus gut geht. Er möchte seine Wählerschaft nicht verprellen (die Unternehmer, die während des Wahlkampfs Whatsapp-Falschmeldungen finanzierten und so zu Bolsonaros Wahlerfolg beitrugen). Deshalb besteht er darauf, dass die Arbeiter wieder produzieren. In den sozialen Medien wird ironisch gefragt: „Wer in deiner Familie kann sterben, damit die Wirtschaft nicht stagniert?“

Vor Kurzem veranstalteten die Anhänger des Präsidenten eine Autodemonstration für die Wiedereröffnung der Geschäfte. Es gibt Videos davon im Netz, viele Importwagen, SUVs, flatternde brasilianische Flaggen. Nur Arbeitgeber. Alle aus dem Herrenhaus. Übrigens rieten die Organisatoren den Demonstrationsteilnehmern, auf keinen Fall ihre Autos zu verlassen.

Brasilien ähnelt Nazideutschland

Weil ich die Situation besser verstehen will, nehme ich mit der Philosophin Marcia Tiburi Kontakt auf. Sie veröffentlichte 2015 das Buch „Como conversar com um fascista“ (Wie unterhalte ich mich mit einem Faschisten) und war bei den Gouverneurswahlen im Bundesstaat Rio de Janeiro Kandidatin für die Arbeiterpartei (PT). Ich frage sie, was sie von Bolsonaros Politik hält, die massenhaftes Sterben der ärmeren Bevölkerung in Kauf nimmt.

„Bolsonaro ist ein Möchtegern-Hitler, um einen Ausdruck Adornos aufzugreifen“, schreibt Marcia Tiburi. „Er hat die Wahl mit seinem zerstörerischen Projekt gewonnen, das auf einem Todestrieb basiert. Da kommt ihm das Virus gerade recht.“

Und: „Brasilien ähnelt in vieler Hinsicht Nazideutschland. Alles, was in Brasilien geschieht, gerade auch die Gleichschaltung der Justiz, erscheint wie eine Rückkehr zu jener Zeit. Schwarze, Arme, Indigene, Aktivisten und Linke sind die Ziele von Bolsonaros zerstörerischer Politik.“

Hintergründe zum Coronavirus

Am 1. April wurde der erste Ansteckungsfall bei brasilianischen Indigenen bekannt. Eine 20-jährige Frau, die Gesundheitsassistentin für indigene Gemeinschaften im Bundesstaat Amazonas ist, hatte sich bei einem Arzt angesteckt.

Vermutlich sind zahlreiche Indigene infiziert worden. Getestet wurden sie nicht, zwei Dörfer wurden unter Quarantäne gestellt. Es gibt eine lange Kolonisationsgeschichte der Infektion von indigenen Völkern durch Weiße.

„Brasilien ist ein Laboratorium des Neoliberalismus“, schreibt Marcia. „Wenn Bolsonaros Politik erfolgreich ist, werden andere Länder sie kopieren. Wer also gerne eine bessere Welt hätte, sollte sehr genau hinschauen, was an den Rändern der Welt passiert, die um Hilfe rufen.“

Wie so viele brasilianische Intellektuelle wurde Marcia Tiburi während des Wahlkampfes 2018 bedroht und ging ins Exil, als Bolsonaro Präsident wurde. Sie lebt heute in Frankreich und unterrichtet an einer Pariser Universität.

Dramatische Lage im Kulturbetrieb

Auch wer im Kulturbetrieb arbeitet, sieht sich seiner Grundlagen beraubt. Meine Frau Juliana ist Sängerin und Musikerin. „Wir mussten als Allererste aufhören und werden die Letzten sein, die wieder ihren Beruf ausüben können“, sagt sie. „Schließlich verursachen wir Menschenansammlungen.“

Schon in der ersten Woche der Krise boten zahlreiche von Julianas Kolleginnen Livegigs im Netz an. An den Wochenenden gibt es einen regelrechten Stau an Liveauftritten auf Instagram, doch davon kann man seine Miete nicht bezahlen.

Der Musiker und Komponist Kiko Dinucci hätte am 19. März ein Konzert in der Casa Francisca gehabt, einem Veranstaltungsort im Zentrum von São Paulo mit einer Kapazität von 200 Plätzen. Anstatt das Konzert abzusagen, trat Dinucci ohne Publikum auf und übertrug das Konzert online.

Er hatte über drei Millionen Zuschauer. Der leere Saal mit den unbesetzten Tischen und Stühlen, die geöffneten Fenster auf ein völlig stilles Zentrum von São Paulo hatten für mich etwas extrem Verstörendes.

Betroffen sind alle, die im Kulturbetrieb arbeiten: Lichttechniker, Tontechniker, Bühnentechniker, Bühnenbildner, Roadies, Produzenten und die Veranstaltungsorte selbst, die jetzt schon bankrott sind. Auch wir Schriftstellerinnen sind betroffen. Wer Schreibworkshops anbietet, kann noch am ehesten mit der Krise umgehen und auf Zoom oder Skype umsteigen. Auch ich biete meine wöchentliche Poesieschreibwerkstatt jetzt im Netz an. Vorerst gibt es einen ziemlichen Ansturm, aber wer weiß, ob das so bleibt.

Anwohner im Schutzanzug. Bürgersteig in einer Favela in Brasilien.
Anwohner im Schutzanzug. Bürgersteig in einer Favela in Brasilien.

© Ellan Lustosa

Wir sagen gerne: Brasilien hat gerade zwei große Probleme: Covid-19 und B17. Die 17 war Bolsonaros Nummer auf der Wahlliste. Ständig reden wir entweder über das eine oder das andere Problem. Sogar unsere Zeit wird von der Regierung bestimmt, und ich meine hier nicht die Sommerzeit, auf die nicht umgestellt wurde, weil Bolsonaro es nicht wollte.

Seit ungefähr zwei Wochen weiß ich jeden Abend, wann es 20.30 Uhr ist. Denn dann gehen die panelaços los: Am offenen Fenster ihrer Häuser und Wohnungen klopfen die Leute auf Töpfe und andere Behältnisse und rufen „Bolsonaro raus“. Ein kleines Mädchen erfand die perfekte Synthese und schrie aus dem Fenster: „Coronaro raus!“

Wir Brasilianer sind gesellig und besuchen uns gerne gegenseitig zu Hause. Da das nicht mehr möglich ist, essen wir auf Skype zusammen zu Mittag, trinken Kaffee vor der Whatsapp-Kamera und essen per Zoom in Gruppen zu Abend.

Kleine Freuden retten den Tag

Ein selbst gefilmtes Video im Netz zeigte einen Mann namens MC Rayban, der ein selbstgeschriebenes Lied im „Funk Carioca“-Stil sang, einem sehr beliebten Rhythmus aus Rio de Janeiro. Wenig später tanzten wir lauthals singend durch die Wohnung. „Nachricht für meine brasilianischen Landsleute“, heißt es auf dem Video.

Und das Lied: „Bakterie du elendes Miststück/ verdammte Mikrobe/ vermasselst das Liebesglück/ die Arbeit ruht in Frieden/ doch Brasilien ist vereint/ und hat Folgendes entschieden/ Covid-19: klares Nein/ und auch C-20 kriegt uns nicht klein.“

Das rettet den Tag hier bei uns zu Hause. Diese Mikrofreude kann uns niemand nehmen.

Angélica Freitas

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