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Sprache und Körper. Bodo Kirchhoff, 1948 in Hamburg geboren.

© imago/Leemage

"Dämmer und Aufruhr" von Bodo Kirchhoff: Verwischte Erinnerung

„Dämmer und Aufruhr“: Bodo Kirchhoff erzählt von seinen frühen Jahren und wie er sexuell missbraucht wurde, sich dabei aber als "Verzauberter" fühlte.

Seine Unschuld verliert der Schriftsteller Bodo Kirchhoff schon im Alter von vier Jahren. Als „kleingeduldiger Kavalier“ und „Sommerkavalier“ bezeichnet er sich gleich auf den ersten Seiten von „Dämmer und Aufruhr“, eines „Romans der frühen Jahre“, so der Untertitel. Dieser Kavalier ist der Vierjährige für die Mutter, während der Sommerferien in Kitzbühel. Mittags zieht sie sich mit ihm zu einem Schläfchen und auch einer Art Schäferstündchen zurück – Kirchhoff bezeichnet es als „Schlüssellochbild“. Auf dem sieht er den Jungen, der er damals war, nackt auf den Fersen seiner ebenfalls nackten, auf dem Bauch liegenden Mutter thronen, ihr zwischen die Beine schauend, und nicht nur das: Mit einem Bleistift erkundet er ihr Geschlecht, „aber nicht mit der spitzen Seite, mit der guten“, wie sie ihn seiner Erinnerung nach warnt.

Kirchhoff spricht von „verwischten Erinnerungen“, von Bildern „von sprachloser Wahrheit, die, in Worte gefasst, eine Brücke zum Wahrscheinlichen bilden“. Aber die erotisch aufgeladene Anfangsszenerie, diese doch spezielle Mutter-Kind-Beziehung gibt den Takt seines autobiografischen Romans vor und legt die Spur zu einem der Leitmotive. Die Adoleszenz besteht in „Dämmer und Aufruhr“ zunächst aus einem bevorzugt körperlichen Erwachen, mit unterschiedlichsten sexuellen Begegnungen, gefolgt von einer intellektuellen Reifung, dem Versuch, eine Sprache dafür zu finden, eine Sprache der Sexualität.

Nicht weniger einschneidend als die Erlebnisse mit der Mutter war für Kirchhoff die Erfahrung, als Schüler eines Internats in Gaienhofen am Bodensee von seinem Religions-, Musik- und Sportlehrer missbraucht worden zu sein, von einem gewissen Herrn Gieser, wie er hier heißt. Kirchhoff offenbarte diesen Missbrauch 2010 in einem Artikel für den „Spiegel“, als der Missbrauchsskandal an der Odenwald-Schule immer größere Kreise zog. Er hatte davon auch schon in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung Mitte der neunziger Jahre gesprochen, ohne auf Resonanz zu stoßen, hatte diesen Missbrauch in Romanen wie „Parlando“ und zuletzt in „Die Liebe in groben Zügen“ fiktionalisiert. Allerdings schränkte Kirchhoff seinerzeit im „Spiegel“ gleich ein, wie ungenügend ihm das Wort „Missbrauch“ vorkommt, „ein Wort, das nicht viel taugt, das nicht viel hilft, das nur die ganze Misere der Sprachlosigkeit zeigt“.

Kirchhoff geht hier ein hohes Risiko ein - das, missverstanden zu werden

Mit „Dämmer und Aufruhr“ dokumentiert er nun, dass er seine Sprachlosigkeit lange überwunden hat. Er erzählt dieses eindeutige Missbrauchsgeschehen wie eine erste, urplötzlich einsetzende Liebesgeschichte. Vom „horrenden Glück im Unglück“ dieser ersten Internatszeit ist da die Rede, als der Lehrer den Jungen erstmals mit auf sein Zimmer nimmt, ihn küsst, ihn seine Schlafanzugshose abstreifen lässt, ihm dabei zusieht, wie er eine Erektion und einen Samenerguss bekommt. Kirchhoff bekennt, sich als „Erwählter, Emporgehobener, Verzauberter“ gefühlt zu haben, schreibt, das dem Elfjährigen „Schauer über Arme und Beine laufen, ein Hin und Her zwischen glühendem Verlangen und glühender Scham“. Folglich ist die Enttäuschung groß, als der Junge auf einer Konzertreise nach Finnland erfährt, dass er nicht der Einzige war, „den der Kantor beiseite nahm“. Ihn „in einem See ertränken“, ist der erste Gedanke, doch dann hat er den Kantor „während der Reise angebetet“,

Man ist erstaunt, ob des Wagemuts von Kirchhoff. Und wundert sich: Selbst Jahrzehnte nach diesen Ereignissen – Bodo Kirchhoff feiert am 6. Juli seinen 70. Geburtstag – sieht sich der Frankfurter Schriftsteller nicht als Opfer, den Lehrer nicht als Täter. Dieser verschwindet nach der Finnlandreise Richtung Lateinamerika. Was immer aus ihm geworden ist: In diesem Buch ist anschließend nicht mehr von ihm die Rede.

Es ist leicht vorstellbar, dass Kirchhoff gerade bei Missbrauchsopfern und vor dem Hintergrund der MeToo-Debatte Entsetzen auslösen wird mit seiner Lesart und Aufarbeitung des an ihm begangenen Missbrauchs. Bodo Kirchhoffs Sicht der Dinge, sein ganz individuelles Erleben sind das eine. Doch diese scheinbare Robustheit hat nicht jeder, nicht jede. Auch ist es nur sehr wenigen vergönnt, solche traumatischen Erlebnisse durch die Sprache, durch das Schreiben zu heilen, also Schriftsteller zu werden.

Kirchhoff hat in der neuesten Ausgabe des „Spiegel“ in einem langen Gespräch gesagt, er vermisse in der MeToo-Debatte „das Drama der Details in der Interaktion von beiden Beteiligten“. Und dass „das wahre Drama immer unerzählt“ bleibe. Das ist eine recht eigenwillige Sichtweise, gerade wenn dieses Drama eben den Bereich der Literatur verlässt. Aber nicht umsonst hat sein autobiografisches Buch ja das Gewand eines „Romans der frühen Jahre“ bekommen, nimmt Kirchhoff mal die Ich-Perspektive ein, schaut dann wieder auktorial auf sich als Kind und Jugendlicher. Trotzdem bleiben die psychische Struktur seines „Kantors“ und dessen Charakter weitgehend blass. Viel mehr als dass der Mann aussieht wie Winnetou, Roth Händle raucht, Cabrio fährt und den Jungen mit „Schönerdu“ anmacht, erfährt man nicht. In dieser Hinsicht bleibt Kirchhoff seinen Anfängen als Schriftsteller treu. Damals konnte er mit den Büchern des von ihm ansonsten bewunderten Suhrkamp Verlags in den siebziger Jahren nur wenig anfangen. Ihm kam es damals vor, als hätten deren Figuren gar keine Körper, als kümmerten sich die Helden nur um ihr Inneres, „mich dagegen interessierte die Oberfläche, die Sprache der Zeichen“.

Ihm geht es um "ein Projekt der Vollendung, dem eines Romans"

Damit geizt Kirchhoff schließlich auch nach der Episode mit dem Lehrer nicht. Immer wieder kommt es zu Begegnungen mit dem eigenen Geschlecht, zunehmend häufiger auch mit dem anderen, und um Bordelle schleicht der junge Kirchhoff früh herum, bis er sich endlich getraut, eines aufzusuchen.

Bei so viel Körpersprache, so vielen Legenden vom eigenen und von fremden Körpern, gerät aus dem Blick, dass „Dämmer und Aufruhr“ vor allem auch ein Mutterbuch ist, ein Abschied von der Mutter. Diese sieht in ihm zwar zeitweise einen Ersatz für ihre unglücklich verlaufende Ehe; doch scheint die Beziehung vertraut und eng geblieben zu sein. Kirchhoff besucht sie häufig bis zum Ende ihres fast 90-jährigen Lebens im Seniorenwohnheim, nicht zuletzt um die eigenen Erinnerungen zu verifizieren.

Ausgangspunkt für das Schreiben dieses Buches ist ein Hotelzimmer im ligurischen Alassio, das die Eltern 1958 für ein paar glückliche Tage besucht haben und das er nun Jahrzehnte später bezieht. So bewegt Bodo Kirchhoff sich gleichermaßen routiniert und elegant auf zwei Zeitebenen. Dabei schiebt er ein ums andere Mal seine Begegnungen als selbst schon alter Mann mit der Mutter ein und hilft der Erinnerung mit vielen Fotos sowie einem mehrere Jahre von der Mutter geführten (und ihm hinterlassenen) Ehejournal auf die Sprünge. „Dämmer und Aufruhr“ ist so zuguterletzt das Porträt einer gescheiterten Familie, eines Ehepaars, das sich zum Schein noch ein paar Jahre für die Kinder trifft. Und das einer Nachkriegsgeneration, die nach vorn schauen wollte, das ersehnte Lebensglück aber nur unzureichend findet.

Der postpubertierende Bodo gerät dann mitten in die 68er-Bewegung, ohne sich in ihr ernsthaft zu betätigen oder gar zu verlieren. Zu sehr ist er mit sich, seinem sexuellen Reifen, dem Malen und – daraus resultierend – mit dem Schreiben beschäftigt, einem „verschlungenen Schreiben“, wie es hier heißt. „Aufgewachsen mit Eltern, die sich wieder und wieder verflüchtigt haben“, vergleicht Kirchhoff sein Schreiben genau damit. Er glaubt, gleichfalls jedes Mal aufs Neue zu verschwinden „in ein Projekt der Vollendung, dem eines Romans“.

Formvollendet ist „Dämmer und Aufruhr“ einmal mehr, so wie Bodo Kirchhoff sich zwischen den Zeiten zu bewegen weiß und seinen Stoff arrangiert. Auch sprachlich ist er auf der Höhe seiner Kunst, vermag er vieles bedeutsamer und schöner zu sagen und zu schreiben, als es ist. Dazu gehört dann leider auch das Verhängnis mit dem Missbrauch.

Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 2018. 480 S., 26 €.

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