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Keiner schrieb schärfer: Karl Kraus in einem Porträt von 1928.

© Imago

"Das Kraus-Projekt" von Jonathan Franzen: Der Gedankenlöwe

Karl Kraus – ein Titan von gestern? Keineswegs. Jonathan Franzen bringt mit einem scharfsinnigen Patchwork-Buch sein Werk in die Gegenwart.

Wo die Wut endet, beginnt der Hass. „Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen“, konstatiert Karl Kraus. „Aber diese Locken gefallen dem Publikum besser als eine Löwenmähne der Gedanken“. Die Sentenz aus seinem Aufsatz „Heine und die Folgen“ (1910) richtet sich gegen Heine, den „Schmerzspötter“, der „von der Gansleber kommt“, die von Kraus verachtete und hartnäckig bekämpfte Wiener Presse der späten Kaiserzeit – und gegen die Öffentlichkeit, die immer wieder auf die Taschenspielertricks dieser Presse hereinfällt. Auch wer in diesem austriakischen Genrebild die „Löwenmähne der Gedanken“ trägt, ist klar. Karl Kraus natürlich.

Kraus war bereits zu seinen Lebzeiten als „großer Hasser“ bekannt. Als solcher ist er in Erinnerung geblieben. Schärfere Sätze hat in deutscher Sprache keiner abgefeuert. Dabei soll er ein freundlicher und großzügiger Mann gewesen sein. Er setzte sich früh für Autoren wie Wedekind und Trakl ein. Neben Verrissen schrieb er auch Hymnen. Doch seine Schmähungen waren erfolgreicher. Kraus entstammte einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie und musste niemals für seinen Lebensunterhalt arbeiten. Seine 1899 gegründete Zeitschrift „Die Fackel“, die er von 1912 bis zu seinem Tod 1936 als alleiniger Autor füllte, wurde von der Familie finanziert. Was machte aus einem dermaßen vom Schicksal begünstigten Mann einen solchen publizistischen Wüterich? Jonathan Franzen vermutet in seinem scharfsinnigen Buch „Das Kraus-Projekt“: „Vielleicht war er so zornig, eben weil er privilegiert war.“ Sich über die bürgerlichen Zeitungen zu erregen, wie Kraus es tat, sei eine Möglichkeit gewesen, dem Bürgertum mitzuteilen, dass er nicht zu ihm gehöre. Kraus wollte Künstler sein, kein Spießbürger. Der Zorn, so Franzen, habe ihn außerdem vom Unbehagen an der eigenen Privilegiertheit entlastet.

Kraus lässt sich nur schwer in eine andere Sprache bringen

Die Ursprünge des „Kraus-Projekts“, einer Mischung aus Kraus-Exegese, kleiner Kulturgeschichte der Wiener Moderne und Autorenbiografie, reichen bis 1982 zurück. Damals hatte Franzen als Austauschstudent in Berlin ein Seminar über Kraus’ Weltkriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“ besucht und war auf dessen zentrale Essays „Heine und die Folgen“ und „Nestroy und die Nachwelt“ gestoßen. In Amerika versuchte er sich an Übersetzungen, musste aber feststellen, dass sie „gestelzt und beinahe unlesbar“ wurden. Kraus lässt sich nur schwer in eine andere Sprache bringen. Seine Prosa funkelt vor Wortwitz, manche Sätze wirken erratisch, die meisten Anspielungen beziehen sich auf Personen oder Vorgänge, die längst vergessen sind.

Frustriert legte Franzen den Text in die Schublade, bis sich der Germanist Paul Reitter bei ihm meldete. Schließlich kam auch noch Franzens Wiener Freund Daniel Kehlmann ins Boot. Franzen schrieb neue Übersetzungen und versah sie mit anekdotischen Fußnoten, wie sie Nicholson Baker gerne seinen Romanen beifügt. Kraus-Experte Reitter steuerte akademische Erläuterungen bei. Und Kehlmann, der die knappsten Beiträge lieferte, kommentiert manchmal verzweifelt: „Keine Ahnung, was Kraus hier meint.“

In kühnen Zeitsprüngen versucht Franzen, Kraus zu aktualisieren

In Amerika, wo „The Kraus-Project“ 2013 erschien, war das Patchwork-Buch eine Pioniertat: die erste Übersetzung der beiden Jahrhundertaufsätze, in denen Kraus ein Hassobjekt (Heine) attackiert, einem Vorbild (Nestroy) huldigt und mit der ganzen sprachlichen und moralischen Verkommenheit seiner Gegenwart abrechnet. Aber hat „Das Kraus-Projekt“ auch der deutschsprachigen Welt etwas zu sagen? Ziemlich viel sogar. In kühnen Zeitsprüngen versucht Franzen Kraus, der auch auf Deutsch schwer zu lesen ist, zu aktualisieren. Er vergleicht Heines enormen Nachruhm mit der Popularität eines Bob Dylan. Heines Flucht nach Paris 1831 ist für ihn das Gegenstück zu Dylans Auftritt beim Newport Folk Festival 1965, wo er unter Buhrufen zur E-Gitarre wechselte.

Uncool ist in diesem Fall das wahre Cool

Keiner schrieb schärfer: Karl Kraus in einem Porträt von 1928.
Keiner schrieb schärfer: Karl Kraus in einem Porträt von 1928.

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So wendet sich Kraus’ Polemik weniger gegen den Dichter als gegen dessen Nachfolger, die Feuilletonisten, die „nach Paris gehen, um sich Talent zu holen“. Deren „poetische Schnörkel“ tragen bei zur „Verschweinung des praktischen Lebens durchs Ornament“, die auch Adolf Loos beklagt. Kraus arbeitet mit der Dichotomie „romanisch“ versus „deutsch“, wobei er der romanischen Kultur das „malerische Gewimmel auf einer alten Rinde Gorgonzola“ und der deutschen Ernst und Vertiefung zuordnet. Franzen erkennt darin das „Primat des Inhalts gegenüber der Form“, das in Deutschland noch immer gelte. Und erklärt: „Wäre Coolness damals schon ein Begriff gewesen, hätte Kraus womöglich gesagt: Deutschland ist uncool.“ Uncool wäre in diesem Fall das wahre Cool. Die Franzen’sche Analogie lautet: „Mac versus PC“. Natürlich zieht er die strenge Funktionalität des PC dem eitlen Hipnessgehabe eines Mac vor.

Sein Buch über den Polemiker Kraus ist selbst Polemik. So wie Kraus zu Felde zog gegen die österreichischen Zeitungen, die mit ihrem Hurrapatriotismus den Weg in den Weltkrieg ebneten, greift Franzen das Internet und dessen Apologeten an. Unsere Situation sei derjenigen Wiens 1910 ziemlich ähnlich, findet er, „nur dass die Zeitungstechnologie durch die digitale Technologie und der Wiener Charme durch amerikanische Coolness ersetzt worden sind“. Seine Diagnose: niederschmetternd. „Faktisch ist das Wesen unseres Alltags die totale elektronische Zerstreuung.“ Für Franzen ist das Internet durch und durch „kommerzialisiert“. Der Furor ist groß, die Moral manchmal kleinkariert – wenn er linke Professoren kritisiert, Apple-Computer zu benutzen, oder Salman Rushdie, Twitter zu „erliegen“.

Stärker ist Franzen als Erzähler. Die Passagen über seine Studentenzeit verdichten sich zum kleinen West- Berlin-Roman. Es war die Ära von New Wave, die Talking Heads waren Franzens Götter, auf dem Brachland, wo einst der Führerbunker stand, befand sich das „Autodrom“. Der Atomkrieg schien unausweichlich.

Kraus’ Texte wandern über die Seitenköpfe, darunter folgen die Beiträge von Franzen, Reitter und Kehlmann. Weil die Aufsätze von Kraus manchmal mitten in der Silbe seitenlang von Anmerkungen unterbrochen werden, fällt die Orientierung mitunter schwer. Deshalb ist es gut, dass die beiden Aufsätze von Kraus soeben auch in einer mustergültigen wissenschaftlichen Ausgabe herausgekommen sind. Dort zerhacken die Fußnoten nicht den Haupttext. Wobei Karl Kraus selbst die Unübersichtlichkeit vorzog: „Kunst bringt das Leben in Unordnung. Die Dichter stellen immer wieder das Chaos her.“

Jonathan Franzen: Das Kraus-Projekt. Mitarbeit von Paul Reitter und Daniel Kehlmann. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt Verlag, 301 S., 19,95 €.
Karl Kraus: Heine und die Folgen. Hrsg. von Christian Wagenknecht und Eva Willms. Wallstein Verlag, Göttingen. 463 S., 32 €.

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