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Musik ist Identität. Die Kontrabassisten haben beim Konzert in der Berliner Philharmonie Fähnchen an ihre Instrumente gesteckt.

© AFP/Tobias Schwarz

Das Kyiv Symphony Orchestra in Berlin: Der geteilte Schmerz

Wie klingt ukrainische Orchestermusik mitten im Krieg? Beim Berliner Gastspiel des Kyiv Symphony Orchestra sitzen in den Rängen der Philharmonie zahlreiche Geflüchtete.

Am Schluss, klar, wird die Nationalhymne gespielt, als zweite Zugabe nach Mykola Lysenkos Ouvertüre der Kosakenoper "Taras Bulba". Hand aufs Herz, die Kontrabassisten haben ukrainische Fähnchen an ihre Instrumente gesteckt. Zwei von ihnen entrollen zudem eine Flagge, auch im Publikum sind Fahnen zu sehen.

Proppenvoll ist die Philharmonie, wohl die Hälfte der 2400 Besucher:innen sind Geflüchtete, junge Leute mit Rucksäcken, kleine und große Familien, zahlreiche Kinder hocken im Scharoun-Saal. Eintritt frei, mit Programmzetteln auf ukrainisch: Ein derart lebendiger, welthaltiger Ort war die Philharmonie seit Pandemie-Beginn nicht mehr. Es gastiert das Kyiv Symphony Orchestra, auf Deutschlandtournee mit ukrainischen Werken und Ernest Chaussons „Poème für Violine und Orchester“. Sologeigerin Diana Tishchenko stammt von der Krim.

"Musik ist Identität“, steht im Programmheft. Aber eine durchlässige, nicht patriotische Identität, wie Maxim Beresowskis C-Dur-Symphonie gleich zeigt. Ein Mozart-Zeitgenosse, der wie Mozart nach Italien reiste und beschwingte, anmutige, nahtlos verzahnte Sätze schrieb. Das Kyiv Symphony Orchestra – ein junges Orchester mit hohem Frauenanteil – betört unter Leitung seines ungemein engagierten italienischen Chefdirigenten Luigi Gaggero mit einem schlanken, wendigen Klang. Verteidigung der Lebenslust: Plötzlich liegt Wien in Osteuropa. Und Osteuropa am Mittelmeer.

Heimat ist Entgrenzung, erzählt die Musik. Und Schmerz: Bei Chausson schwebt der Gesang von Diana Tishchenkos Geige bis hoch unters Dach, entfaltet süße Wehmut bei Myroslaw Skoryks populärer „Melodie“, einem innigen, inständigen Gebet, das im Pianissimo und unisono endet – ein surrealer Moment der Stille.

Ortskundige helfen den ukrainischen Besuchern bei der Platzsuche in der Philharmonie

Die jungen Frauen in der Reihe vor mir tippen eifrig auf ihre Handys, die Hymne wird per Video festgehalten: Wer seine Heimat verloren hat, braucht die Vernetzung. Ein bisschen ist es so, als ob die Philharmonie gerade ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt. Etwa wenn ortskundige Besucher den Gästen bei der Platzsuche helfen und auf den verschachtelten Weinbergterrassen ein munteres Hin und Her herrscht: Ist ja ja nicht einfach, die Orientierung in der Scharoun-Architektur. Oder wenn sich während der Musik energiegeladene Aufmerksamkeit einstellt, Ruhe in der Unruhe. Nur vereinzelt werden Tishchenkos virtuose Soli von Kinderstimmen begleitet.

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Nach der Pause spielt die Flötistin des KSO, als Hommage an die polnischen Gastgeber bei den zurückliegenden Probenwochen in Warschau, das Solostück „Spiritus promptus“ des polnischen Komponisten Wlodzimierz Kotónski.

Sie entlässt den Geist aus der Flasche, bevor die Elemente in Borys Ljatoschynskyjs 3. Symphonie (1951) endgültig entfesselt werden. Der Ukrainer litt ähnlich wie sein russischer Komponisten-Kollege Schostakowitsch unter der Zensur, er musste den Finalsatz beschönigen. In der Philharmonie erklingt die Originalfassung.

Dies-Irae-Anklänge, lauernde Tremoli, schwere Kondukte. Mal gestopftes, mal dröhnendes Blech mit ins Dissonante driftenden, sich auftürmenden Motiven. Auch die Paukistin kennt kein Erbarmen. Dennoch sind die martialischen Passagen dieses schroffen, zerklüfteten Werks von kurzen seligen Momenten und Volksweisen durchsetzt. Harfe und Glockenspiel, Cello-Kantilenen, ein singendes Englischhorn, es sind prekäre Idyllen, die unweigerlich hinweggefegt werden. Da ist er, der Krieg, der heillose Widerstreit, die große vergebliche Anrufung eines Friedens, der in weiter Ferne liegt. Am Ende stehende Ovationen.

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