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Pixel oder Pathos. Auch das musikalische Theater lebt von Künstlichkeit und hergestellten Emotionen: hier eine Szene aus der „Großherzogin von Gerolstein“ an der Komischen Oper Berlin.

© imago images/Martin Müller

Wie sich Gaming und Theater verbinden lassen: Das programmierte Gefühl

Computerspiele, Schauspiel und Musiktheater: Ein Pilotprojekt von Komischer Oper und Berliner Ensemble zeigt neue Möglichkeiten auf.

Es braucht viel Fingerspitzengefühl, um aus einer Beerdigung eine Party zu machen. Genau das aber ist die Aufgabe von Eve. Ihr verstorbener Großvater hat der Enkelin in einem Abschiedsbrief aufgetragen, ein Lächeln auf die Gesichter der rings um seinen Sarg Versammelten zu zaubern und der Trauerfeier ordentlich Stimmung einzuimpfen.

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Also wandert das Mädchen von der Großmutter zum betrunkenen Onkel und weiter zum „Free Buffet Guy“, dem verlorenen Fremden, der sich nur wegen der Würstchen im Schlafrock eingeschlichen hat und muss aus einem Multiple- Choice- Kasten möglicher Konversationsangebote das passende wählen. Den Satz, der zum Beispiel die Großmutter an die Silberstreifen am Horizont erinnert: wie die Kreuzfahrt, die sie schon gebucht hat.

Das Dialog-Spiel, in dem das Mädchen Eve mit einem niedlich animierten Mäusegesicht durchs muntere Begräbnis-Setting gesteuert wird, heißt „Code of Condolence“. Entstanden ist es bei einem Game Jam, den das Berliner Ensemble und die Komische Oper kürzlich ein Wochenende lang zusammen veranstaltet haben.

Zum Gam Jam kommen Entwickler:innen aller Sparten

Das 2002 im kalifornischen Oakland erfundene Format lädt Entwickler:innen aller Sparten zu unterschiedlich langen Kreativsessions ein, bei denen Teams gebildet, Spielideen gepitcht, digitale Pfade gesponnen und Prototypen produziert werden. Nicht die Perfektion steht im Vordergrund, sondern das Vergnügen des Ausprobierens.

In „Code of Condolence“ gehe es um das „Policing von Gefühlen“, sagt die Theatermacherin und Musikern Sarah Fartuun Heinze, die für Art Design und Sound zuständig war. „Wir haben keine Kultur des Trauerns – und trotzdem Vorgaben für die vermeintlich richtige Weise, Trauer zu zeigen: nicht zu lang, nicht zu kurz, das erwartete Maß an Tränen.“ Trotzdem – ein eher gewöhnliches Thema für ein Computerspiel. Oder? Nein, entgegnet die Britin Ruth Mariner, Opernregisseurin und Stipendiatin der Akademie der Künste, von der die Texte zum Spiel stammen.

Bei den Indie-Games geht es genauso ernst und politisch zu

Sie verweist auf das erfolgreiche Jump’n’Run-Game „Celeste“, das vom Kampf gegen innere Dämonen erzählt: „Die Protagonistin wird von einer depressiven Version ihrer selbst verfolgt.“ Gerade im Bereich der Indie-Games geht es längst so ernst und so politisch zu wie in einem Stück.

Bleibt die Frage: Was können Theaterleute und Spiele-Entwickler:innen voneinander lernen? Wo haben die digitalen und analogen Illusionsmaschinerien ihre Berührungspunkte? Das zu ergründen, war eine der Motivationen dieses Game Jams von BE und Komischer Oper. Die beiden Häuser werden zusammen im Projekt „Spielräume!“ der Kulturstiftung des Bundes gefördert, das Schauspiel und Oper bei der Erschließung von virtuellem Neuland helfen will.

Was ja nicht schaden kann. Schließlich hat die Corona-Krise gezeigt, dass etliche Bühnen willens und in der Lage sind, sich mit Live-Streams, Virtual-Reality-Experimenten, Telegram-Parcours und ähnlichem vom Publikum im Saal unabhängig zu machen. Aber viele suchen momentan noch nach der Rolle, die das Digitale in postpandemischen Zeiten spielen soll.

Im Gaming-Bereich gibt es Artistic Directors, im Theater Regisseur:innen

Da mag der Blick über den Nachbarszaun zu den Profis der Pixelwelten helfen. Zumal schon bei den Produktionsstrukturen Gemeinsamkeiten festzustellen sind: Im Gaming-Bereich gibt es Artistic Directors, im Theater Regisseur:innen, beschreibt Thorsten S. Wiedemann, Leiter des mit BE und Komischer Oper kooperierenden A-MAZE-Festivals.

Hier Storytelling, dort Dramaturgie. Hier Level und Character Designer, dort Ausstatter:innen, Kostüm und Maske. Und auf beiden Seiten der Kunst „werden Welten jenseits des alltäglichen Erlebens geschaffen“, so Wiedemann. In denen es, nicht zu vergessen, sehr wesentlich um das Spiel mit Gefühlen geht. „Coded Emotions“, „Programmierte Gefühle“ – so war der dreitägige Game Jam auf der Probebühne der Komischen Oper auch überschrieben.

Trauer, Angst, Glück: Gefühle werden reproduzierbar gemacht

„Schon im Barock waren bestimmte Motive mit Affekten wie Trauer verknüpft und damit andockfähig für das Publikum“, sagt Rainer Simon, Referent des Intendanten an der Komischen Oper und mitverantwortlich für „Coding Emotions“. „Aus heutiger Sicht ein sehr technischer Vorgang.“ Mascha Camino – Spieleentwicklerin bei einem Indie-Studio und Tochter eines Schauspielerpaars aus Freiburg im Breisgau – sieht eine Menge Parallelen zwischen Spielen auf der Bühne und am PC oder der Konsole: „Beide haben eine soziale Komponente, funktionieren nicht ohne Beteiligung und zielen darauf, Gefühle reproduzierbar zu machen.“

Camino hat ein Impulsvortrag der BE-Schauspielerin Stefanie Reinsperger zum Auftakt des Game Jams beeindruckt. In dem ging es darum, wie das Herstellen von Emotionen für sie nicht funktioniert: zum Beispiel, sich den Krebstod der Mutter vorstellen zu müssen, um Trauer zeigen zu können.

Beim Gaming wie im Theater gibt es das gemeinsame Erlebnis

Reinsperger – selbst eher dem Brettspiel als dem Gaming zugeneigt – arbeitet eher nach der Grotowski-Methode: den Körper an einen Punkt der Erschöpfung zu bringen, um durchlässiger für Emotionen zu werden. „Das ist für mich einfacher, als mich bei jeder Probe, jeder Vorstellung in solche Gedankenspiralen zu schrauben“, sagt sie. Welche Regungen sie damit wiederum auslöse, das entziehe sich freilich ihrer Kontrolle. Und diese Unberechenbarkeit sei ja gerade das Tolle an der Zusammenkunft von Zuschauer:innen im Theater- oder Kinosaal – die mit den Gamer:innen die Verabredung teilten, „ein gemeinsames Erlebnis zu haben“. Was am Computer wiederum „auch über die Welt verteilt“ möglich sei.

Eine zu Boden purzelnde Eiskugel soll Wut erzeugen

Mascha Camino und ihre Teamgefährt:innen haben derweil ein Spiele- Bundle mit dem Titel „Curious Emotion Collection“ entwickelt, das Gefühle eben doch berechenbar zu machen versucht: etwa mithilfe eines emotionalen Trainingsangebots für Schauspieler:innen (gecodet in schöner Retro-Kästchen-Optik mit der Software Wario), bei dem eine zu Boden purzelnde Eiskugel augenblicklich Wut erzeugt.

Wenn es doch immer so einfach wäre! Die Prototypen, die bei dem Game Jam entstanden sind – sechs an der Zahl – zielen allerdings nicht ernsthaft auf sofortige Verwertbarkeit in Theaterkontexten. Auch wenn einige der Entwickler:innen sich vom Input des BE- und Komische- Oper-Teams deutlich haben inspirieren lassen: Beim Spiel „Karaopera“ kann man einen Avatar namens Pavarottix vor originaler Wagner-Kulisse („Götterdämmerung!“) in die Arien-Ekstase treiben.

Beim Singleplayer-Game glaubt der Spieler: Nur du bist gemeint

Bonn Park – Autor, Regisseur, nach eigener Aussage „Nintendo-Kind“ und ebenfalls am Game Jam beteiligt – benennt, was die Kunst an der Konsole in seinen Augen vor allem auszeichnet: „Interaktivität und Intimität.“ Mit letzterem meint er die Möglichkeit, sich im geschützten Raum unter Kopfhörern bei einem Singleplayer-Game das Gefühl abzuholen: „Nur du bist gemeint.“

Generell sei das Erzählpotenzial von Games „unendlich groß“, so Park. In seinem Team – das an einem Spiel namens „Push the button“ arbeitet – ist auch Cornelia Geppert, kreativer Kopf der Berliner Indie-Firma Jo-mei. Der Laden ist 2019 durch die Decke gegangen mit dem Spiel „Sea of Solitude“, in dem Geppert ihre eigenen Erfahrungen in einer emotional missbräuchlichen Beziehung verarbeitet hat. Die Spieler:innen begegnen in einem bis zu den Dächern gefluteten Berlin verschiedenen Formen der Einsamkeit – durch soziale Ausgrenzung, aufgrund von Depressionen.

[Die Prototypen der Spiele sind online zu sehen unter www.itch.io]

Die Reaktionen waren überwältigend. Nicht nur, weil ein Preisregen und die Einladung auf ein Podium in Hollywood folgten. Sondern, weil es so viel Feedback von Einsamen gab, denen „Sea of Solitude“ aus der Seele sprach. „In der Spielbranche gibt es einen enormen Bedarf, das eigene Erleben gespiegelt zu sehen“, sagt Geppert. Und vielleicht gilt das ja nach wie vor auch im Theater. Dieser Game Jam legt jedenfalls nahe, auf welche Emotion es gerade besonders ankommt: das Gemeinschaftsgefühl.

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