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„Den Kindern klarmachen: Er meint nicht uns“: So reagieren Schriftsteller und Wissenschaftler auf das „Stadtbild“-Zitat von Friedrich Merz
Der Kanzler spricht im Zusammenhang mit Migration von einem „Problem im Stadtbild“. Schriftsteller und Wissenschaftler mit Migrationshintergrund berichten, wie das bei ihnen ankam.
Stand:
Als Folge früherer Versäumnisse in der Migrationspolitik attestierte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) Deutschland am vergangenen Dienstag „ein Problem im Stadtbild“. „Rückführungen“ müssten deshalb „in sehr großem Umfang“ ermöglicht und durchgeführt werden.
Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte sich Ende September im „Münchner Merkur“ für mehr Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien starkgemacht – und gefordert, dass sich das Stadtbild wieder verändern müsse.
Aus anderen Parteien wurde nach der Aussage von Merz viel Kritik laut, Partei-Kollegen unterstützten den Kanzler hingegen.
Was denken Menschen mit Migrationshintergrund? Vier Menschen aus Wissenschaft und Literatur teilen ihre Gedanken.
Rassismus, der sogar Eigennutz schlägt
Manchmal sprechen Politiker den Subtext laut aus. So wie Friedrich Merz, als er damit prahlte, dass seine Regierung die Asylanträge um 60 Prozent reduziert habe (nicht aber die Gründe für Asyl), und dann nachlegte: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“
Das ist ebenso skandalös wie ehrlich. Denn Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund wissen längst, dass es bei den ganzen Debatten nicht um zu wenig Platz im vollen Boot, sondern um Rassismus geht. Rassismus, der sogar Eigennutz schlägt, wenn Menschen aus Pflegeberufen herausgerissen und abgeschoben werden, obwohl wir händeringend Menschen in der Pflege brauchen. Dass es dabei nicht um Legalität versus Illegalität geht, zeigt der Fall der jesidischen Familie aus Brandenburg, die vor dem IS geflohen war und im Juli zurück in den Irak geschickt wurde, obwohl das Verwaltungsgericht ihre Abschiebung gestoppt hatte.
Das Ästhetische wird zum politischen Instrument
Merz’ Satz trifft mich, weil er ein politisches zu einem ästhetischen Problem macht – und Menschen wie mich meint. Er verschiebt Fragen sozialer Ungleichheit in eine scheinbar visuelle Ordnung. Das „Stadtbild“ steht hier für das Ideal einer homogenen Gesellschaft. Wenn es zum Problem wird, dann vor allem, weil sich die Vorstellung davon, wer dazugehört, verengt hat. Das Ästhetische wird hier zum politischen Instrument: Es verwandelt strukturelle Ungleichheit in kulturelle Differenz, verknüpft sie mit persönlichen Fragen von Ordnung und Anstand. Am Ende sind diejenigen das „Problem“, die von diesen Strukturen am stärksten betroffen sind.
Unsere Forschung zeigt: Von Rassismus Betroffene werden in fast allen Lebensbereichen strukturell diskriminiert. Merz beschreibt kein Stadtbild, sondern die Wirkung jener Ausschlüsse. Solche Statements gefährden das friedliche Zusammenleben, weil sie Differenz zur Bedrohung erklären und die Vorstellung festigen, wer dazugehört. Doch die Migrationsgesellschaft ist kein Widerspruch zu Deutschland. Sie ist längst Realität.
Du hörst alles mit gebrochenem Herzen
What a crazy Schicksal: Du kommst als Migra-Pascha auf die Welt. Das Erste, was dir deine Eltern beibringen: Sei dankbar für alles in Deutschland. Deutschland wird dir alles geben, was wir nicht bekommen haben, gib dir Mühe! Alles wird heilig erklärt. Im Kindergarten überlegst du fünfmal, ob du das Recht hast, um ein Glas Wasser zu bitten. Du überlegst jeden Satz dreimal, um die deutsche Sprache nicht zu verletzen. Willst Rilke werden, versuchst, jedes Wort mit 1000 Bedeutungen zu schmücken.
Machst, was dir deine Mutter sagt: Im Kühlschrank muss es mindestens ein Topf Essen für unerwartete Gäste geben. Schuftest, lernst, beginnst und endest jeden Satz mindestens mit zweimal „Bitte“, um nicht falsch verstanden zu werden. Über 40 Jahre vergehen. Dann wird dir eine verkackte Sprache um die Ohren gehauen: natürlich Waffen liefern, natürlich Städte säubern, natürlich rausschmeißen.
Du hörst alles mit gebrochenem Herzen, weil: alle menschlichen Werte, die Vorsicht, die Scham der Sprache, alles, was deine ungebildeten (?!?!?) Eltern mit viel Wärme, wie hauchdünnes Glas dir in die Hand gegeben haben, wird von neureichen Sultanen Deutschlands plattgetreten, bewusst, nur für ein wenig Aufmerksamkeit in Medien (Fremdscham von Duisburg bis nach Tokyo).
Noch trauriger, während der Stein im Magen sitzt, versuchst du abends am Esstisch deinen Kindern klarzumachen: Das hier ist unser Land, er meint nicht uns. Und egal wie die Politik tickt, du sagst: Schleift eure Zungen, verletzt die Menschen nicht, die Welt gehört allen, wenn ihr euer Brot esst, dann nicht vor anderen Augen, oder teilt es, fragt zumindest. Weil: So kannst du nur deine Hoffnung, die Würde, die man dir zwischen zwei Scheiben in die Turntasche gesteckt hat, glitzern lassen.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt wächst, wo Diversität anerkannt wird
Die Aussage des Kanzlers, Migration sei ein „Problem im Stadtbild“, trifft mitten in das Herz der deutschen Gegenwart. Sie macht sichtbar, wie tief visuelle und kulturelle Vorstellungen von „Normalität“ noch immer von Ausschluss geprägt sind. Wenn Vielfalt im öffentlichen Raum als Problem beschrieben wird, richtet sich das nicht gegen Strukturen, sondern gegen Menschen, gegen Nachbar:innen, Kolleg:innen, Mitbürger:innen. In meinen Forschungen zu Migrant:innen in Deutschland zeigt sich, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt dort wächst, wo Diversität als Selbstverständlichkeit anerkannt wird.
Politische Sprache prägt diese Wahrnehmung entscheidend. Wer Migration zum Störfaktor erklärt, schwächt Vertrauen, Zugehörigkeit und Demokratie. Notwendig ist eine Sprache, die Verantwortung übernimmt und die Realität einer pluralen Gesellschaft nicht als Belastung, sondern als Grundlage unseres Zusammenlebens begreift.
Hinweis: In einer früheren Version waren zwei Texte versehentlich falsch zugeordnet. Wir bitten diesen redaktionellen Fehler zu entschuldigen.
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