zum Hauptinhalt
Unruhiger Geist. Heiner Goebbels.

© Harald Hoffmann/dpa/Ricordi

Heiner Goebbels zum 70. Geburtstag: Der Anti-Wagner

Pianist, Komponist, Improvisator, Theatermann und Hörspielkünstler: Heiner Goebbels wird mit einer Langen Nacht im ARD-Radio gewürdigt.

Von Gregor Dotzauer

Was für ein herrlicher Krach. Die Ondes Martenot, jenes gestisch zu umschmeichelnde Instrument, das sein elektronisches Lied schon sang, bevor es Synthesizer gab, irrt durch die Oktaven. Eine verzerrte Gitarre trompetet dagegen an, ein Saxofon versucht mitzuhalten, während ein Schlagzeug dazwischenpoltert und der Pianist, der sie alle zusammengebracht hat, im Inneren seines Flügels wühlt. Ist das hier Kindergeburtstag, Elefantenhaus oder Donaueschingen? Und woher kommt so plötzlich die edle Melancholie, die auf das Lärmen folgt?

Willkommen bei The Mayfield, der neuen Band von Heiner Goebbels, wie man sie bei der Langen Nacht von HR und SWR hören kann. Sechs Stunden in vier Abteilungen, die Manfred Hess zum 70. Geburtstag des Mannes am heutigen Mittwoch zusammengestellt hat, der sich hier in seiner ganzen Vielfalt präsentiert. Als Musiker und Improvisator. Als Komponist großer Orchesterstücke wie „Walden“ nach Henry David Thoreau. Und als Hörstückkünstler, der etwa in „Die Wiederholung“ die Welten von Sören Kierkegaard, Alain Robbe-Grillet und Prince zusammenbringt.

Wer sich bei The Mayfield an die frei improvisierende Artrock-Band Cassiber erinnert fühlt, die Anfang der 80er Jahre die Szene mit einer aufrührerischen Energien aufmischte, wie man sie bis dahin eher aus New York kannte, liegt nicht ganz falsch. Was einst New Wave, Pop, Noise und – in Gestalt des Henry Cow– Drummers Chris Cutler – die Ausläufer der Canterbury-Szene explosiv vermischte, ist ein selbstverständliches Genre an den Rändern des Jazz geworden. Heute trommelt bei Goebbels die wunderbare Französin Camille Emaille.

Mit Brecht und Eisler

Damals stand er am Anfang seiner Karriere. In Frankfurt am Main hatte Goebbels Schulmusik und Soziologie studiert und mit einer Arbeit abgeschlossen, deren Titel ein sprechendes Zeugnis seines einstigen Fokus ablegt: „Zur Frage der Fortschrittlichkeit musikalischen Materials – Über den gesellschaftlichen Zusammenhang kompositorischer Maßnahmen in der Vorklassik und bei Hanns Eisler“. Mit dem Saxofonisten Alfred Harth hatte er ein Duo gegründet, welches das deutsche Brecht-Eisler-Pathos mit den Mitteln des Free Jazz zertrümmerte, und mit dem Sogenannten Linksradikalen Blasorchester gehörte er zu den Kollektivklangkörpern jener Zeit, die vor nichts Zirkushaft-Theatralischem zurückscheuten.

Prägend wurde für ihn die Begegnung mit Heiner Müller, dessen Texte er mehrfach vertonte und inszenierte. Als Komponist, der aus der Improvisation kam, sah er seinen Platz aber immer eher am Sampler als am Schreibtisch. Goebbels ist ein unruhiger Geist, der lieber Stimmen und Klänge aus allen Ecken und Enden der Welt sammelt, als Partituren zu notieren.

Eine überzeugende Verbindung von beidem bietet sein jüngstes Werk „A House of Call“, das man nicht als Höhepunkt seines Werks betrachten muss, wohl aber als Zusammenschau fast aller Strömungen verstehen kann, die in seine Arbeiten Eingang fanden. Bei seinem Münchner Stammlabel ECM erscheint jetzt, akustisch mit höchster Transparenz aufbereitet, der Mitschnitt der Münchner Aufführung von „A House of Call“, die der Uraufführung beim Berliner Musikfest im vergangenen Jahr folgte.

Gegner des Gesamtkunstwerks

Heiner Goebbels ist ein erklärter Gegner des Gesamtkunstwerks, ein Anti-Wagner auf allen Ebenen, den ästhetischen wie den politischen. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1997 wendet er sich gegen den „totalitären Anspruch“ des Bayreuther Meisters, alle Gattungen der Kunst zu annektieren, „um jede einzelne“, wie Wagner schrieb, „zu vernichten zugunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller“. Von dieser Vernichtung will Goebbels nichts wissen. Er will an der „Chance ihrer Behauptung in der wechselseitig sich ablösenden, in einem kontinuierlichen Schwebezustand gehaltenen Präsenz" festhalten.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Im selben Aufsatz spricht er von der produktiven „Kollision“ der Künste. Vielleicht liegt in ebendieser, weder theoretisch noch praktisch leicht aufzuhebenden Spannung zwischen „Schwebezustand“ und „Kollision“ seit jeher die Faszination seiner Arbeit. Unweit ätherischer Regionen kann es noch so rumpeln, knallen und schrillen. Wort und Ton mögen einander bekämpfen, bevor sie einander kommentieren oder gar miteinander verschmelzen. Die Schichten von Bühne und Film, mit denen er etwa in seinem Canetti-Projekt „Eraritjaritjaka“ spielte, mögen miteinander konkurrieren. Das Exaltierte und das Introvertierte finden am Ende immer wieder zusammen– wenn nicht in einer Wagner’schen Synthese, so doch in offenen und beweglichen Konstellationen. Goebbels, der auch in Berlin ein festes Quartier unterhält, ist über die Jahre derselbe geblieben und darüber ein anderer geworden. Er möge damit noch lange so vital weitermachen können.

Die Lange Nacht wird am 17.8. ab 0:05 Uhr f HR und SWR ausgestrahlt und ist anschließend auf hr2.de und in der ARD-Audiothek nachzuhören. „A House of Call“ erscheint am 19.8. bei ECM.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false