Kultur: Der Club der toten Richter
Weiß der Schwarm, wohin er schwimmt? Zur Debatte um den Pop, seinen Kanon und seine Kritiker
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Kürzlich erschien auf Deutsch „Hall of Shame“, ein Buch mit dem Untertitel: „Die größten Irrtümer in der Geschichte des Rock’n’Roll“ (Rogner & Bernhard). Darin wurden längst in den Kanon des guten Geschmacks aufgenommene Meisterwerke der Beatles, Beach Boys, Rolling Stones, von U2 und Nirvana durch eine jüngere Kritikergeneration als blamable Entgleisungen geschmäht. Ein kindischer Abwehrreflex scheint Herausgeber Jim DeRogatis zu dieser Anthologie genötigt zu haben. Er selbst geißelt das „Sgt. Pepper’s“-Album der Beatles als „konzeptionellen Größenwahn“ und rechnet mit der Vorstellung ab, dass eine Platte, die den Geist ihrer Zeit einfangen und Rockmusik zur Kunstform erheben will, auch unbedingt genau so klingen müsse.
Wichtiger ist, dass sich „Hall of Shame“ gegen den Versuch der Väter des Rockjournalismus richtet, einen Kanon der Popkultur etablieren zu wollen. Wobei sich die Initiatoren dieser Gegengeschichte des Rock- ’n’Roll bewusst waren, dass ihr Unterfangen etwas zutiefst Pubertäres hat. Es ist keinen Deut weniger peinlich als das, wogegen sie sich wenden. Aber immerhin, meint DeRogatis, der Anfang sei gemacht, „eine ausführlichere, postmoderne Sicht“ auf die Popgeschichte zu ermöglichen. Das, was Pop ausmache, müsse sich wie in Kurosawas „Rashomon“-Parabel aus mehreren Perspektiven zusammenfügen. Vor allem aber müsse der Gedanke vom kulturellen Niedergang, wie er seit dem „Sgt. Pepper’s“-Album angeblich zu verzeichnen sei, aufgegeben werden. Man sollte vielmehr anerkennen, „dass die besten Sounds aller Zeiten noch kommen könnten, anstatt für immer im Bernstein der Vergangenheit eingebettet zu sein“.
Unter deutschen Musikjournalisten ist ein ähnlicher Streit ausgebrochen, wenn auch viel umständlicher. Im Kern geht es um die Frage: Welche Bedeutung hat das Reden über Popmusik? Kann Kritik mehr als Kaufempfehlungen aussprechen? Woher nimmt sie die Kriterien für ihre Urteile? Und ist Pop als Subversionskraft tatsächlich so tot, wie manche seiner früheren Apologeten behaupten?
Mehrere Fraktionen stehen sich in dieser Pop-Debatte gegenüber. Ausgelöst wurde sie von der kollektiven Entlassung der Kölner „Spex“-Redaktion. Wir erinnern uns: Die hatte sich geweigert, dem Wunsch des Verlegers zu entsprechen, das Heft fortan in Berlin zu produzieren, und wurde kurzerhand geschasst. In den Nachrufen auf das einstige Leitmedium des bundesdeutschen Pop-Wissens hielt sich das Bedauern in Grenzen. War nicht Pop ohnehin längst überall? Wer brauchte da noch Meinungsführer, die ihrer Prophetenfunktion ohnehin nicht mehr gerecht würden. Der Schwarm weiß schon, wohin er schwimmen soll.
Ausgestanden war die Sache damit nicht. Im Gegenteil. Die neue „Spex“, die nun mit verkleinerter Mannschaft an der Spree entsteht, verkündet zum Auftakt zwar kein neues Grundsatzprogramm, aber rechnet mit „dieser Antipop-Denke“ ab, die in Ermangelung zeitgemäßer Popkonzepte Totengräberstimmung verbreite. Es sei absurd anzunehmen, schreibt der neue Chefredakteur Max Dax, „der Abgesang auf die Popkultur könnte der angemessene radikale Standpunkt für Leute sein, die über Popkultur schreiben“.
Gemeint war der Pop-Theoretiker, Kulturprofessor und „Spex“-Übervater Diedrich Diederichsen. Der hatte 1992 nach den Brandanschlägen auf ostdeutsche Asylbewerberheime die These vom Ende der Jugendkulturen als emanzipatorische Kraft formuliert. Da der rassistische Mob sich mühelos Symbole der schwarzen Gettos wie Malcolm-X-Kappen einverleibt hatte, sah Diederichsen das Widerstandspotenzial von Pop schlechthin gefährdet. Das, worum es im Zeichenkosmos vorrangig gegangen sei, nämlich eine Unterscheidung zwischen links und rechts durchzusetzen, habe sich verbraucht. „The Kids Are Not Alright“ lautete Diederichsens Credo, mit dem er die Stoßrichtung weiterer Überlegungen vorgab.
Dass Dax & Co diesen Text mit 15-jähriger Verspätung zum Anlass einer Generalrevision nehmen, mag instinktlos sein angesichts der Tatsache, dass schon genug Leichen im „Spex“-Keller liegen. Diesen Theorie-Kadaver hätte man da nicht auch noch obenauf werfen müssen. Aber er kommt gelegen. In der „Zeit“ demontiert Thomas Groß den Popkritiker als elitären „Bescheidwisser“. Der Experte sei durch Internet und MP3-Format zur Rolle des „Zeigenden“ verdammt, schreibt er. Was wiederum Diedrich Diederichsen in der „taz“ veranlasst, sich grundsätzliche „Gedanken zum Stand der Popkritik“ zu machen. Fazit: Der Kritiker ist noch immer ein Akteur des – exklusiven – Wissens, wie man sich „gegen die Dominanz reaktionärer Ideen im Impliziten heutiger Popmusik“ wehren könne. Seine Bastion ist das besser begründete Geschmacksurteil.
So formieren sich Pop-Melancholiker und Diskurs-Ritter zur Schlachtordnung. Und man weiß nicht, was mehr nervt: der akademische, hanebüchen-unverständliche Tonfall, mit dem über eine Sache gesprochen wird, die Spaß machen soll; oder die Untergangsstimmung, die über all diesen Rückzugsgefechten liegt. Denn um solche handelt es sich. Dass beide Modelle vom Kritiker die Verstrickung in seinen Gegenstand verlangen, zeigt, wie neurotisch die Beziehung ist. In einer Kultur, in der es vor allem um Überwältigung geht, fühlt man sich in der paradoxen Gestalt des teilnehmenden Beobachters den Affektobjekten ständig unterlegen. Die libidinöse Bindung an Musikstile, Sounds, Kleidungs- und Sprachcodes schreibt immer mit. Da helfen auch Abwehrreflexe nicht weiter.
Erst kürzlich diagnostizierte die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ in diesem Stil, dass die Popmusik seit Jahren nicht vom Fleck komme. Retro sei zum Stil-Ideal einer von vitalen Interessen abgeschnittenen Unterhaltungskultur geworden. Der symbolische Kapitalismus, in dem Zeichen, Posen und Maskeraden mehr einbringen als das nackte Leben, stellt sich als horror vacui dar. Pop, welch glamouröses Wort, ist seiner eigenen Nivellierungsdynamik zum Opfer gefallen – ein Abschreibungsprojekt. Und wie im Reflex wird gegen die hohle Geste des Retrokults emphatisch eine Zeit beschworen, die noch so etwas wie Risiko kannte.
Sozialisationsromantik wäre wohl ein passendes Wort für diese Feier der eigenen Jugendjahrzehnte auf Kosten der Glaubwürdigkeit nachfolgender Generationen. Sie zieht sich durch alle mit Popmusik aufgewachsenen Altersgruppen. Und sie lehrt: Pop schreibt sich im Modus des Kulturkampfes fort. Die einen erklären just das für erledigt, was andere gerade als ihr Ureigenes akquirieren. In diesem Sinne besteht die Zunft derer, die mit Popmusik ihr Leben fristen, aus Investmentbankern des Emotionalen.
Ob nun wirklich der Avantgardeanspruch der Poplinken zur Debatte steht, wie Thomas Groß prognostiziert, oder doch nur gute von schlechter Musik mit den Mitteln der kritischen Theorie nicht zu trennen ist, bleibt dahingestellt. „Pops Glück ist, dass Pop kein Problem hat“, sagt Rainald Goetz gut gelaunt. Auf eine Phänomenologie symbolischer Vermittlungsgesten lässt Pop sich nicht reduzieren. Es geht um Kronkretes, um die Schärfe eines E-Gitarren-Klangs, das Tempo eines Beats, um Erlebnisse, die danach drängen, sich in Musik zu verklären. Nach den großen Erzählungen bleiben die kleinen: eine Platte, Songs. Weder spielt es eine Rolle, dass sie wahr sind, noch dass der Erzähler sie selbst erlebt hat.
Denn mit Musik verhält es sich nicht anders als mit Menschen. Manche haben Charakter, andere nicht. Wie stark der ist, erfährt man erst, wenn’s kritisch wird.
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