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Kultur: Der eiserne Gast

Krieg und Frieden (5): Was Philosophen sagen und was sie verschweigen – von Erasmus bis Virilio

Ein „ruhmvolles Unternehmen“, sagt Erasmus, ist der Krieg – soll heißen: ein Unternehmen, wie es „nur von Schmarotzern, Kupplern, Wegelagerern, Meuchelmördern, Bauernlümmeln, Tölpeln, Bankrotteuren und ähnlichem Unrat der menschlichen Gesellschaft“ betrieben werde. Aber nicht, fügt der holländische Humanist hinzu, „ von laternetragenden Philosophen“. Das ist so nicht ganz richtig. Wohl aber gibt es oft zwischen den persönlichen Erfahrungen der Philosophen und ihren Schriften einen Bruch. Ludwig Wittgenstein zum Beispiel trat bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges freiwillig in die österreichische Armee ein, weil er, wie seine Biografen behaupten, keine Möglichkeit mehr sah, sinnvolle Konsequenzen aus seinen philosophischen Anschauungen zu ziehen. Wittgenstein arbeitete in den Jahren vor und während des Krieges an seinem berühmten „Tractatus logico-philosophicus“. Doch der Krieg wird darin mit keiner Silbe erwähnt, und er ist auch sonst kein Thema für Wittgensteins Philosophie.

Auch Friedrich Nietzsche zog freiwillig ins Feld. Bei Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges erbat er sich Urlaub von seiner Professur an der Basler Universität, um als Sanitäter zu dienen. „Ich bin bis in die Nähe von Metz vorgedrungen und habe von dort einen Verwundetenzug nach Karlsruhe geleitet“, schreibt er aus dem Erlanger „Hotel Wallfisch“ im September 1870. „Hierbei, bei dem fortwährenden Verbinden ihrer zum Teil brandigen Wunden, bei dem Schlafen in Viehwägen, in denen 6 Schwerverwundete auf Stroh lagen, habe ich den Keim der Ruhr in mich aufgenommen. (...) Ich werde Dienstag oder Mittwoch abreisen, um mich in Naumburg weiter zu pflegen.“ Nicht länger als eine Woche hatte der Philosoph sich im Kriegsgeschehen aufgehalten. Aber er versichert: „Ich wäre sofort noch ein zweites Mal ausgezogen, wenn nicht die Krankheit es mir unmöglich gemacht hätte."

Der Felddiakon Nietzsche war also alles andere als ein blutrünstiger Krieger. Er rühmte sich, mitleidig „im Sinne Schopenhauerscher Ethik gehandelt zu haben“, indem er eine von hunderten verwundeter Franzosen angefüllte Dorfkirche gegen die Wut der eigenen Soldaten schützte. Welch ein Gegensatz zu Nietzsche, der die Sache kalt von oben betrachtet: „Der Krieg ist unentbehrlich... Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jene Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisierende Glut in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgültigkeit gegen große Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, ebenso stark und sicher mitgeteilt werden könnte, wie dies jeder große Krieg tut.“ Hier scheinen Ansichten durch, die schon Hegel über den Krieg als Mittel zur Erhaltung der „sittlichen Gesundheit der Völker“ geäußert hatte, und so martialisch ist Nietzsche der Nachwelt im Gedächtnis geblieben.

Auch wenn man von Philosophen erwartet, dass sie den Rahmen des zu Erwartenden sprengen, stellt man an sie doch auch die Forderung, ihr Denken solle „wahr“ sein. Vermutlich ist, was Nietzsche und was Hegel über den Krieg zu sagen hatten, nicht wahr. Das behauptet der britische Kulturtheoretiker Arnold Toynbee. Er hat das Thema 1950 in „Krieg und Kultur“ beleuchtet. Sein Schluss: „Der Militarismus richtet eine Kultur zugrunde.In diesem selbstmörderischen Geschehen wird das ganze gesellschaftliche Gefüge Nahrung für die verzehrende Flamme im ehernen Bauch des Molochs.“

Das Urteil des common sense über den Krieg in Frage zu stellen, ist die verbreitetste Strategie philosophischer Überraschungscoups. Es gibt dazu noch eine weitere Variante. Sie zeigt sich in dem bekannten Tucholsky-Satz, der in den Bemerkungen des Erasmus von Rotterdam bereits angeklungen war: „Soldaten sind Mörder.“ Dieses Urteil ist verbreitet unter den Philosophen der Aufklärung. Jean-Jacques Rousseau etwa drang darauf, dass im Kriege die „einzelnen nur zufällig Feinde sind, und zwar nicht als Menschen, ja nicht einmal als Staatsbürger, sondern als Soldaten“ (1762, „Contrat social“). Ganz ähnlich dachten auch La Rochefoucauld, Voltaire und Diderot.

Ihre konsequenteste Fortsetzung fand diese Linie des Denkens in dem amerikanischen Philosophen Henry Thoreau mit seiner 1848/49 begründeten Lehre über die „Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Die philosophischen Anhänger der „Soldaten sind Mörder“-Theorie sind deswegen noch keine Pazifisten. Kriege ohne Staat und Militär sind für sie einfach nicht denkbar: weil diese Institutionen den Rahmen abgeben, innerhalb dessen etwas, das man im Zivilleben „Mord“ nennt, zur Ehrensache wird. Ein Rezept zur Kriegsvermeidung aber sucht man bei jenen Philosophen vergebens. Insbesondere Thoreaus Überlegungen beschränken sich darauf, wie er selbst aus der Sache mit sauberen Händen herauskommt. Davon abgesehen, waren es gerade humanistische Erwägungen, die der Zähmung und somit der moralischen Ermöglichung moderner Kriegsführung den Boden bereiteten: der Entstehung von Institutionen wie dem Roten Kreuz und der Genfer Konvention, nach welcher Verwundete, Kranke und Sanitäter im Krieg neutralen Status besitzen.

In der gegenwärtigen philosophischen Arena ist es vor allem der französische Philosoph und Medientheoretiker Paul Virilio, der die Aufklärungstradition fortsetzt, indem er die sozialen und technischen Bedingungen des Krieges analysiert: die „Desinformationsverfahren“ und die „Kommunikationswaffen“, welche im Zeitalter der Bildschirmschlacht zur „Steuerung der ganzen Menschheit“ eingesetzt werden.

Die von Thoreau, Virilio und anderen bekundete Ansicht, dass die Begriffe von Recht und Unrecht im Krieg sinnlos sind, teilt auch der preußische General von Clausewitz mit seiner ab 1832 publizierten Schrift „Vom Kriege“, die den militärischen Kampf als Instrument der Interessenspolitik beschreibt. Hier jedoch mag sich die Mehrheit der Philosophen nicht anschließen. Für sie, wie für die meisten Nichtphilosophen, ist es eine legitime Frage, ob ein Krieg gerecht oder notwendig sein kann, um Frieden zu schaffen.

In der politischen Philosophie ist man dabei überwiegend optimistischer als der Sozialkritiker Thoreau, was die positiven Effekte staatlicher Gemeinwesen angeht – und pessimistischer als der Romantiker Rousseau, was den imaginären Ur- oder Naturzustand des Menschen betrifft. Man hält es hier eher mit Thomas Hobbes, der Mitte des 17. Jahrhunderts meinte, dass die Menschen ohne eine sie alle im Zaum haltende Macht im wölfischen „Krieg eines jeden gegen jeden“ leben würden. Die Folgerung, die der englische Philosoph als Anthropologe und gleichsam erster und finsterster Bürgerkriegstheoretiker ableitet, hat fast universale Anerkennung gefunden. Allein die Macht staatlicher Souveränität, so Hobbes, könne jenen Kriegszustand beenden. Diesen Gedanken galt es nun auch auf die Beziehungen der Völker untereinander anzuwenden.

Den entscheidenden Anstoß gab hierzu Immanuel Kant mit einer Schrift, deren Titel er einer Inschrift auf einem Gasthausschild entlehnt hat. Auf dem Schild war ein Friedhof gemalt: „Zum ewigen Frieden“. Kants Plan eines Friedens auf Erden läuft auf das Modell einer Völkerrechtsgemeinschaft hinaus. Neu an seinem Entwurf war 1795 vor allem, dass dieser auch die innergesellschaftlichen Bedingungen für den Frieden mit in Betracht zog. Seine Forderung „Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören“ ist weithin bekannt.

Auch der vor kurzem verstorbene amerikanische Moralphilosoph John Rawls ist in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch „Das Recht der Völker“ dem Kantianischen Modell gefolgt, selbst wenn er hinter manche von Kants Forderungen wieder zurückfällt – etwa der, dass die Staaten das Recht aufgeben sollten, auf eigene Faust Krieg zu führen. Rawls entwickelt das System des Völkerrechts in Analogie zu seiner „Theorie der Gerechtigkeit“. Wie dort befinden sich die Parteien in einer Modellsituation, hinter einem „Schleier der Unwissenheit“: Sie kennen weder die Größe des Territoriums oder der Bevölkerung noch den Stand der natürlichen Ressourcen oder die Stufe der ökonomischen Entwicklung ihres Landes. Aus dieser fiktiven Situation heraus, die ein größtmögliches Maß an Unparteilichkeit im Urteil garantiert, sollen sie sich für bestimmte Rechtsvorschriften entscheiden.

Die so von Rawls entwickelten Grundzüge des Völkerrechts betreffen auch die Regelung des Kriegsfalls. Was man bei Rawls oder, ausführlicher noch, in den Schriften seines amerikanischen Kollegen Michael Walzer hierzu findet, sind die letzten Ausläufer der einst so mächtigen Theorie des „Gerechten Krieges“. Diese Theorie ist ein Korpus von seit dem 13. Jahrhundert immer wieder diskutierten, kommentierten und modifizierten, in ihrer formalen Struktur jedoch gleich bleibenden Argumenten. Sie betreffen vor allem das „ius ad bellum“, das (moralische) Recht, Krieg zu führen, und das „ius in bello“: die Moral der Kriegsführung.

Die Theorie des Gerechten Krieges umreißt den Rahmen, innerhalb dessen sich zwangsläufig auch heutige Debatten über die Rechtmäßigkeit humanitärer Interventionen, über den Afghanistan-Krieg oder einen Präventivangriff auf den Irak bewegen, wobei die Theoretiker des gerechten Krieges nicht um das Urteil im Einzelfall, sondern allein um die Prinzipien gerechter Kriegsführung streiten. Die Theorie des Gerechten Krieges passt von allen Philosophien des Krieges so auch am ehesten zur intellektuellen Haltung, wie man sie von Beratern und Mitgliedern von Ethikkommissionen kennt.

Sie brilliert nicht durch Originalität, sondern durch die Gründlichkeit des Denkens. Diese Art von Philosophie bietet keinen Ausweg aus der Welt der Politik. Sie führt mitten in sie hinein: in Unternehmen aller Art, mitunter auch in den Krieg, den auszufechten man heute freilich nicht mehr den Schmarotzern, Tölpeln und Bankrotteuren, sondern ehrenvollen Staatsbürgern überlässt.

Krieg und Frieden: Theater (8.1), Literatur (11.1), Film (18.1), Witz und Satire (24.1). Demnächst: Popmusik.

Ralf Grötker

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