Kultur: Der Jugend eine Gasse
Die Zeiten ändern sich. Wie sie auch immer uns ändern. Eins bleibt stets gleich: Der Nachwuchs von heute ist schlecht.
Stand:
Lukas W. ist tot. Er ist nicht mehr aus dem Koma erwacht, in dem er vier Wochen lag. Er war 16 Jahre alt. Und er kann nun nicht mehr bereuen, was er Ende Februar für eine abgrundtiefe Dummheit begangen hatte, als er sich auf ein Wettsaufen mit seinen Kumpels einließ. Es ist egal, ob er nun 45 oder 50 Schnäpse getrunken hat, am Ende hatte er 4,4 Promille. Es ist auch egal, ob das zum Sieg im Wettsaufen gereicht hätte, höher verlieren als Lukas W. kann man nicht.
Ein 15-jähriges Mädchen, das vor einer Woche nach einem ähnlichen Gelage ins Krankenhaus eingeliefert worden war, konnte inzwischen wieder entlassen werden. Hoffentlich geheilt, möglicherweise mit dem strikten Vorsatz: „Nie wieder!“. Möglicherweise auch mit einem Brummschädel von der zermürbenden, aber auch segensreichen Frage: „Wie bescheuert war ich da eigentlich?“
Nun sind es schon zwei. Da kann man doch mit Fug und Recht von der „Generation Suff“ sprechen. Die „Bild“ spricht von der „Generation Suff“. Und sie berichtet seit Wochen mit gierigem Entsetzen vom Komasaufen der Jugendlichen und den Flatrate-Exzessen in den Kneipen. Nüchtern betrachtet ist die Lage nicht ganz so dramatisch. 274 Kinder und Jugendliche mussten im Jahr 2005 in Berliner Krankenhäusern wegen Alkoholmissbrauchs stationär behandelt werden, das waren 0,1 Prozent dieser Altersgruppe. Im Jahr 2000 waren es weniger, nämlich 156. Achtung: Trend! Die signifikanten Zahlen, die bisher zum Jahr 2006 vorliegen, veranlassen den Senat indes zu der Aussage, dass der Alkoholkonsum der Kinder und Jugendlichen leicht rückläufig ist. Trend gebrochen?
Weg mit Zahlen und Fakten. Es berauscht sich doch so schön am kindlichen Rausch, an der verderbten, vermaledeiten Jugend. Es ist doch auch so: Die Jugend von heute ist ständig besoffen, sie ist außerdem permanent bekifft, sie schert sich nicht um die Schule, nicht um die Ausbildung, sie achtet das Alter nicht und dessen Erfahrung erst recht nicht, sie hat kein Benehmen, keine Ziele, nicht mal Pläne, sie ist laut, grölend, und wenn man ihr in der U-Bahn begegnet, muss man sich fürchten, weil die Jugend von heute zu allem Überfluss auch noch gewaltbereit ist. Die Jugend von heute ist ein ziemlicher Dreckshaufen! Und früher war alles ganz anders und viel besser.
Jugend-Bashing gibt es seit es Jugend gibt. Jugend ist aus Sicht der Alten immer irgendwie aufsässig, renitent, tut dies, unterlässt jenes, ist respektlos, rebellisch, faul, arbeitsscheu und lustbetont. Es hat mal eine Phase in Deutschland gegeben, da war die Jugend nicht so. Da tat sie, was man ihr hieß, und die Alten waren sehr zufrieden mit der Jugend. Da war sie sehr sauber, sehr folgsam und ohne Widerspruch. Man nannte diese Jugend Hitler-Jugend.
Aber trotz der schlechten Erfahrung mit dieser Jugend: Pocht die Jugend auf ihr Recht und kommt ihrer Pflicht nach, unangepasst zu sein, sich auszuprobieren, Holzwege zu beschreiten und aus Dummheiten zu lernen, ist es den Alten auch nicht recht und sie vergessen die eigene Herkunft.
Das Komasaufen zum Beispiel. Kampftrinken hieß das früher. Dazu wurden Zweiliter-Bomben Lambrusco gereicht, ein angeblicher Rotwein, der den Namen nicht verdiente, der eigentlich nicht in Kehlen gehörte sondern in den Abfluss. Ralf, dessen Eltern etwas betuchter waren, brachte mal eine Flasche Dimple mit, 12 Jahre alten schottischen Whiskey, wahrlich ein Frevel in jugendlichen Schlunden, aber was war das für ein Fest. Anschließend ging es nächtens ins geschlossene Freibad, betrunken mit den Mofas, und im Freibad dann auf den Zehnmeterturm geklettert. Was da hätte passieren können. Im Winter hätte man auch einbrechen können auf viel zu dünnem Eis mit viel zu großem angetrunkenen Mut. Und es war auch wahrlich keine Heldentat sondern lebensgefährlich, als so eine angetrunkene Gruppe am anderen Flussufer ein Ruderboot kaperte und, nautisch komplett unerfahren, mit dem Boot quer über den Rhein setzte. Streng genommen war es nicht nur Leichtsinn, sondern auch Diebstahl und Sachbeschädigung. Das massenhafte Abreißen von CDU-Plakaten in irgendeinem Wahlkampf der Siebzigerjahre war auch weniger eine politische Tat als eine erheblich angefeuerte, ziemlich überflüssige Mutprobe.
Es sind Geschichten aus der Jugendzeit, und jeder hat solche zu erzählen. Die Schutzengel sind fleißige Engel, nur alles können sie auch nicht bewerkstelligen. Die Schutzengel von Lukas W. waren wohl überfordert, wie sie mitunter auch früher überfordert waren, Lukas W. ist nicht der erste Jugendliche, der umkam im jugendlichen Leichtsinn und in der Dummheit. Der Unterschied: Die früheren Exzesse und Erprobungsrituale fanden im privaten Raum statt und nicht vor den Augen unverantwortlicher Wirte, die mit saudummen Verlockungen verführen. Und es stand in den seltensten Fällen in der Zeitung. Eine These: Möglicherweise hat die derzeitige Schlechte-Jugend-von-heute-Welle auch damit zu tun, dass der meinungsbildende Boulevard nicht so recht weiß, was er mit der Großen Koalition anfangen soll, und froh ist, dass er wenigstens Knut, Brigitte Mohnhaupt und kampfsaufende Jugendliche hat.
Geschimpft aber wurde schon in der Antike. „Die Jugend liebt heute den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte. Die Jugend steht nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widerspricht den Eltern und tyrannisiert die Lehrer.“ Das Zitat ist nicht ganz taufrisch, und auch die Quellenlage ist nicht hundertprozentig gesichert. Sokrates, dem diese Tirade wider die Jugend zugeschrieben wird, hat selber keine Schriften hinterlassen. Aber Platon, der viel der Sokratesschen Äußerungen aufgezeichnet hat, äußert berichtet von Sokrates als Jugendskeptiker. Dass dieser Sokrates am Ende als Verderber der Jugend zum Schierlingsbecher greifen musste, war gewiss ein Justizskandal, aber vielleicht auch ein Indiz für die mangelnde Haltbarkeit und Wahrhaftigkeit der Jugendbeschimpfung. Sie wurde dennoch fortgesetzt. Ein paar Jahre nach Sokrates meldete sich ein gewisser Aristoteles zu Wort. Der lebte von 384 bis 322 v. Chr. und erlebte die Jugend als ebenso schrecklich wie sein philosophischer Vorgänger: „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ Das könnte aus dem auch aus dem Mund eines demographiefürchtigen Rentenpolitikers des Jahres 2007 stammen.
Weiter nach Rom zu Seneca, der die Jugend zwar nicht explizit beschimpft, aber ihr doch Urteilskraft abspricht. Das war, nachdem er um die Mittagszeit Gladiatorenkämpfe besucht hatte und sich empörte, dass zu dieser frühen Stunde das Volk nach Blut schrie und es wohl auch geliefert bekam. Nicht der edle Schwertkampf wurde ihm geboten, sondern ein Gemetzel. Wovor er die Jugend bewahren wollte: „Ein noch nicht hinreichend gefestigtes Gemüt muss man dem Einfluss der großen Menge entziehen.“ Hatten wir dergleichen nicht vor Kurzem? Aber ja, als Kirchenvertreter und andere die Verlegung der dümmlichen Casting-Show „Deutschland sucht den Superstar“ in die Abendstunden verlangte, weil ihnen die Sprüche von Dieter Bohlen als unverantwortlich für jugendliche Ohren, fürs nicht gefestigte Gemüt, erschienenvorkamen.
Zu allen Zeiten, nicht nur in den dunklen deutschen, war dieses nicht gefestigte Gemüt an anderer Stelle durchaus willkommen. Man könnte auch polemisierend sagen, dass zu allen Zeiten die größte gewaltbereite Jugendgruppe die Heere sind. Formbare Menschen, zum Töten erzogen, auf Gewaltanwendung getrimmt. Und es sind doch noch Jugendliche, wenn sie mit 18, 19, 20 Jahren zu den Armeen gezogen werden. Mit welchem Ergebnis hat Bernhard Wicki 1959 verfilmt, In „Die Brücke“ kann man sehen, wie aus kriegsbereiten und deformierten Kindern gebrochene Jugendliche werden. Im Grunde genommen hatte die Jugend keine Chance, gerade nicht in dieser unseligen Zeit, in der sie doch so konform war, zu allem Ja und Amen sagte oder sagen musste, stramm stand, uniform war und „Seid bereit! Immer bereit!“ rief. Das Zitat stammt allerdings aus einer anderen Zeit. Aber Jugend, als Hort und Heimat der Renitenz, als legitimer Platz der Rebellion, das durften die „Jungen Pioniere“ der DDR doch wohl auch nicht sein.
In keinem Jahrzehnt kann sie es den Alten Recht machen. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren hörte sie „Negermusik“, den Jazz, der schon ausprobierte, ob und wie Grenzen auch mal zu überschreiten sind. Dann hörte sie Rock’n Roll, der das Aufbegehren im Programm hat. Die Waldbühne in Berlin weiß von diesem Programm zu berichten, seit 1965 beim Konzert der Rolling Stones die jugendlichen Besucher Kleinholz aus ihr machten. Aber warum bloß aufbegehren, fragten sich die Alten immer wieder, die Jugend hat doch gar keinen Grund zur Rebellion. James Dean, der „Rebel without a cause“, hatte das ein Jahrzehnt zuvor grundsätzlich anders gesehen. Und mit ihm eine Generation. Die Musik- und Filmgeschichte quillt über vom Aufbegehren der Jungen, ihren Wünschen und Träumen und dem Unverständnis der Alten. Als Yusuf Islam noch Cat Stevens hieß, hat er „Father and Son“ besungen, die in Welten leben, die nicht mehr zueinander finden. Jim Morrisson hat den Vater gleich umgebracht im Song und die Mutter .... The Who besangen „My Generation“, und sie war nie, sie wird es nie sein, die Generation der Alten. Dass die Bandmitglieder anschließend ihre Instrumente zertrümmerten, ja, das solle einer verstehen. Dabei ist es doch die Zerstörung der Verhältnisse, die wir von der Jugend wollen.
Oder nicht? Ist die Jugend politisch, engagiert sich, geht auf die Straße, dann ist das die böse Revolution. „Bürger lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein“, skandierten die Studenten, die um 1968 für eine andere Welt, eine vermeintlich bessere durch die Straßen demonstrierten. Die Bürger aber blieben lieber als Zuschauer in den Fenstern, voller Unverständnis für die langhaarigen Gammler und Faulpelze da unten auf der Straße. Als deren Vordenker Rudi Dutschke Weihnachten 1967 vor der Gedächtniskirche in Berlin eine Diskussion über Sinn und Unsinn des Vietnamkrieges führen wollte, ein an sich ja durchaus vernünftiger Gedankenaustausch, der nicht nur der Jugend und ihren etwas älteren Vertretern gut angestanden hätte, wurde er von einem alten Gottesdienstbesucher niedergeschlagen. So unverständig waren in diesen Jahren die Alten und die Jungen, dass es die „Bild“ leicht schaffte, die Alten bis zur Hysterie aufzustacheln gegen alles, was nicht der Konformität entsprach. Am Ende schoss ein Josef Bachmann Rudi Dutschke nieder. (Es würde sich übrigens möglicherweise lohnen, mal zu untersuchen, inwieweit ein Franz Josef Wagner heute in der Bildzeitung mit seinen Pamphleten gegen die Freilassung der ehemaligen RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt zu Verstoßen gegen die Rechtsstaatlichkeit auf ruft; aber das ist ein anderes Thema).
Es hat in den Jahren danach eine Jugendbewegung gegeben, die sich gegen dieses politische Engagement stellte. Popper, Yuppies, wie immer sie hießen. Aber das war auch nicht recht. Da wurde der Jugend Egoismus vorgeworfen, Vergnügungssucht, Gleichgültigkeit.
Engagiert sie sich, engagiert sie sich für die falschen Sachen. Engagiert sie sich nicht, wird sie als bequem denunziert. Was denn nun? Und es ist ja nicht immer Unsinn, wenn die Jugend die bestehenden Verhältnisse durcheinander rüttelt, gegen sie aufbegehrt oder „kaputt macht, was dich kaputt macht“. Woodstock, das große Festival, eine Demonstration von Frieden und Freiheit, man hat davon lernen können. „Züri brennt!“ – der Beginn der Jugendunruhen der Achtzigerjahre, was war verkehrt daran gegen den Beton und die Sterilität anzukämpfen? Ein absurder Treppenwitz des Generationenkonflikts war, dass ein paar Wochen zuvor in Hamburg das Magazin „Stern“ über eben diese Jugend högte: „Die Schlaffis kommen“. Der Titel meinte „Diese Jugend geht nicht mehr auf die Barrikaden“. Tat sie aber. Oder die Berliner Hausbesetzungen, der Kampf gegen Atomkraft, der Widerstand gegen die Nachrüstung, allesamt Jugendbewegungen, die nichts Schlechtes im Sinn führten. Und auf der anderen Seite: Dieseselbe böse, schlechte Jugend, die nur säuft und kifft und pöbelt, die pilgert in Hunderttausendschaften nach Rom, wenn es gilt, einen neuen Papst zu küren. Auch da war die Jugend, und sie war nicht nur angepasst, aber das eben warfen ihr manche Leitartikel vor, und dass sie die Religion zur Popkultur missbrauche.
Was ist das bloß, dass die Alten durch die Jahrtausende hinweg so angsterfüllt auf die Jugend blicken lässt und so gedächtnisarm deren Holzwege und Irrtümer begleitet? Ist es der Zorn, selber nicht mehr jung zu sein? Die Grenze verläuft ja nicht zwischen „Spießern“ und „Nichtspießern“. Sie verläuft zwischen Jung und Alt. Als der Punk abging in den späten Siebzigerjahren, als sich Jugendliche Sicherheitsnadeln durch die Wangen trieben und mit Ratten auf der Schulter und zerlumpten Klamotten den Bürgerschreck markierten, als sie auch schon saufend in den Fußgängerzonen saßen, da entstanden die Legenden von den Straßenschlachten, in Kreuzberg, auf der Ratinger Straße in Düsseldorf, auf der Hafenstraße in Hamburg. Die Protagonisten dieser frühen Jahre belächeln ihre Nachfolger nur noch. Früher, heißt es, da waren die Schlachten zum 1. Mai noch Befreiungskämpfe, heute ist die Randale ein Kindergeburtstag, keine Anarchie mehr, nur noch Chaos. Und es stimmt ja auch.
Aber wo setzt das Vergessen ein, ab wann werden die Jugendsünden peinlich, erzählen die Älteren von der eigenen Jugend wie Opa vom Krieg? Und warum? Weil die Vernunft wächst? Oder doch die Bequemlichkeit und mit ihr die fetten Jahre kommen?
Hans Weingartners Film „Die fetten Jahre sind vorbei“ bringt dieses Vergessen auf den Punkt und lässt es Burghart Klaußner als Justus Hardenberg, den Entführten, großartig jämmerlich darstellen. Wie er in der Berghütte sitzt und von einem Leben erzählt, von dem seine drei Entführer nur träumen, ein Leben wie er es geführt hat und nun nicht mehr führt, weil er dieses Leben in Wirklichkeit verachtet und nur noch im romantischen Rückblick verklärt – ja, soll da die Jugend nicht voller Verzweiflung saufen?
Die Jugend ist so verlottert oder nicht verlottert, wie sie immer war. Vor allen Dingen ist sie nicht DIE Jugend. Sie splittet sich auf in allerlei Gruppierungen, geschlossen wahrscheinlich nur am äußersten rechten Rand, der nun wirklich Anlass zur Sorge gibt. Rapper, Raver, Hippies, Biker, Trekkies, Streetballer, Tierschützer, Kiffer, Normalos, Veganer, Punks, Reggaes, was ist die Jugend? Disparat, das ja, manche, wenige, versoffen, manche kommen darin um, die meisten werden auch diese Jugend überleben. Und wir Alten gewiss auch. Aber das Plädoyer für mehr Gelassenheit mit der Jugend, es ist wohl vergeblich. So alt wie das Bashen der Jugend, so alt ist auch der Versuch, es zu unterlassen. Vergeblich. Es geht eh wieder los. Wenn die Jungen alt werden.
Der Autor, 51 Jahre, ist Vater eines 19-jährigen Sohns.
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