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Kultur: Der Overground im Underground

Fast jedesmal gibt es Applaus im dritten Untergeschoß des Hotels "Noga Hilton" in Cannes, jedesmal vor einem Film, wenn die "Quinzaine des réalisateurs" ihren eigenen Trailer zeigt, der nur für dieses Jahr Gültigkeit hat."La quinzaine des réalisateurs a trente ans" flüstert eine Stimme am Ende einer Bildmontage aus mindestens ebensovielen Filmen und mit Namen, die inzwischen zur Filmgeschichte gehören: Rohmer und Rivette, Godard und Altman, Herzog und Wenders, Angelopoulos, Scorsese und Oshima - sie alle hatten ihr Cannes-Debüt in dem Programm, das aus der Revolte von 1968 hervorgegangen ist, bevor sie in den Wettbewerb einzogen und dort die Goldenen Palmen abräumten.

Fast jedesmal gibt es Applaus im dritten Untergeschoß des Hotels "Noga Hilton" in Cannes, jedesmal vor einem Film, wenn die "Quinzaine des réalisateurs" ihren eigenen Trailer zeigt, der nur für dieses Jahr Gültigkeit hat."La quinzaine des réalisateurs a trente ans" flüstert eine Stimme am Ende einer Bildmontage aus mindestens ebensovielen Filmen und mit Namen, die inzwischen zur Filmgeschichte gehören: Rohmer und Rivette, Godard und Altman, Herzog und Wenders, Angelopoulos, Scorsese und Oshima - sie alle hatten ihr Cannes-Debüt in dem Programm, das aus der Revolte von 1968 hervorgegangen ist, bevor sie in den Wettbewerb einzogen und dort die Goldenen Palmen abräumten.

Obwohl auch das Wettbewerbsprogramm von Cannes inzwischen an Filmen von Debütanten nicht mehr vorbeigeht, hat die "Quinzaine" ihre Bedeutung behalten können als der Ort der Entdeckungen und Erkenntnisse - wenigstens was den internationalen Spielfilm angeht.Noch immer sucht der vom Wettbewerb genervte Zuschauer dort, in der unvoreingenommenen Mischung der Länder, Namen und filmischen Stile, Erholung vom Mainstream-Kino, an dem das Wettbwewerbsprogramm nicht vorbeigehen kann, das aber in der "Quinzaine" keine Chance hat.

Gerade hier, im Tiefkeller des "Noga Hilton", an der Stelle, wo einst das ehrwürdige und von der Patina der Filmgeschichte dekorierte "Palais de Cinéma" stand, gerade hier kommen die Gegensätze und Widersprüche der Entwicklung des internationalen Films zur Sprache.Da kann ein Film des Schweizer Altmeisters Alain Tanner neben dem eines fast namenlosen Newcomers aus Korea laufen, die böse Familienkomödie "Happiness" von Todd Solondz aus den USA neben "Last Night", dem ironischen Melodram auf das Ende der Welt zum Ende des Jahrtausends von dem Kanadier Don McKellar, und neben der russischen Politik- und Mediensatire "The Stringer" von Paul Pawlikowski.Wenn schon nicht alle Filme des Wettbewerbs und seiner Nebensektion "Un certain regard" eine Chance haben, in Deutschland in die Kinos zu kommen, so gilt das für die Filme der "Quinzaine" erst recht.

So bergen gerade diese Begegnungen Glück und Schmerz in einem, das Glück, an ihnen teilnehmen zu dürfen, und die Trauer, von Glücksmomenten des Kinos zu erzählen, die den meisten verschlossen bleiben werden.Da "Requiem", der Film von Alain Tanner, "Last Night" und "The Stringer" Koproduktionen mit Fernsehanstalten sind, wird man sie wenigstens auf der kleinen Leinwand zu sehen bekommen, irgendwann tief in der Nacht, noch tiefer als der Keller des "Noga Hilton".Dabei leben diese Filme vom Bild der Landschaften und Städte, die in ihnen zu Landschaften werden.Zum Beispiel Lissabon in "Requiem", einem Film, der wie diese Stadt zwischen Leben und Tod existiert und keinen Unterschied mehr zwischen beidem macht.

In "Last Night", der Parabel auf das Ende der Menschheitsgeschichte, scheint der Wahnsinn aus den Betonsilos der Wohnmaschinen und dem Asphalt der Straßen zu dampfen, während Menschen sich nicht nur sinnlos umbringen, sondern auch neu kennenlernen - woraus der Film noch einen Abglanz von Utopie gewinnt.Davon kann in "The Stringer" nicht mehr die Rede sein, der einen jungen, noch mit VHS dilettierenden Fernsehreporter - grandios gespielt von dem russischen Nachwuchsschauspieler Sergej Bodrow jr.(Protagonist schon in "Gefangen im Kaukasus") - mit den Fragwürdigkeiten des Nachrichtenhungers der Medien konfrontiert.Was ihn umso mehr an einen rechtsorientierten, faschistischen Politiker bindet, dessen Faszinationskraft der vaterlose Vadik sich entziehen kann.Sie scheinen immer noch am Stalin-Syndrom zu leiden, die jungen Russen, die den mächtigen Vater ihrer Geschichte verloren haben.

Privates und Politisches überlagern sich auch in "Spring In My Hometown", dem ersten selbst inszenierten Film des koreanischen Drehbuchautors Kwangmo Lee.Es ist die Alltagsgeschichte eines Dorfes im letzten Jahr des Kriegs zwischen Nord und Süd, und obwohl der Krieg selbst nicht in das Bild einer idyllischen Landschaft tritt, ist er unentwegt zu spüren.Die Amerikaner kommen und gehen, nehmen sich die Frauen und Töchter des hungernden Dorfs als Prostituierte, während sich die Jungen, aus deren Perspektive der Film erzählt ist, mit Diebstahl und Brandstiftung gegen eine Überfremdung wehren, von der sie noch kein Bewußtsein haben können.

In ihren dreißig Jahren hat die "Quinzaine" ihren Ort so oft wechseln müssen, wie keine andere Sektion des Festivals.Mindestens sechs Kinos oder Kinokomplexe waren das in den drei Jahrzehnten, und der dornenreiche Weg mochte dabei gelegentlich auch durch Pornokinos führen.Es gibt unvergeßliche und unvergessene Tage und Nächte der "Quinzaine", zum Beispiel als Angelopoulos mit "O Thiassos" für das Kino der Welt entdeckt wurde, oder als die "Société des réalisateurs français" dem damals als verbraucht, verkifft und vergessen geltenden "Easy Rider"-Regisseur Dennis Hopper für "The Last Movie", einem als mißraten geltenden Film, Ovationen bereitete.Es war für die "Quinzaine" ein Wagnis, aber alles andere als ein "last movie"

PETER W.JANSEN

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