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Kolumne Spiegelstrich: Der perfekte Satz
Eigentlich ist es ganz einfach. Ein perfekter Satz schwingt, klingt, ist rhythmisch und kein Wort zu lang. Es gibt ein paar davon.
Stand:
Klaus Brinkbäumers Buch „Im Wahn – Die amerikanische Katastrophe“ (zusammen mit Stephan Lamby) erscheint bei C. H. Beck. Der Dokumentarfilm „Im Wahn“ läuft am 26. 10. um 22.50 Uhr in der ARD
Das Thema hat etwas Einschüchterndes. Ich möchte diese Kolumne über wundervolle, sogar perfekte Sätze schreiben, doch wie fange ich’s an?
Sie erinnern sich: Vor einigen Wochen haben wir an dieser Stelle und hinterher in Mailwechseln perfekte Texte diskutiert; Kolumnen über Sätze und Wörter, das war die Abmachung, sollten folgen. Heute setzen wir unsere kleine Serie fort und beginnen mit ersten Sätzen.
Erste Sätze, die es in sich haben
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.“ „It was the best of times, it was the worst of times.“ „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ „Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt.“ „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art.“ „Ein Leben beginnt gewöhnlich mit der Geburt, meins nicht.“ „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ (Sie stammen aus dem Grundgesetz und der Bibel, von Dickens, Grass, Tolstoi, von Walter Moers und zweimal von Kafka.)

© Tobias Everke
Meine vier Regeln: Ein perfekter Satz schwingt, klingt, ist rhythmisch und kein Wort zu lang. Meist ist die klassische Struktur Subjekt-Prädikat-Objekt die sinnvolle, damit man den perfekten Satz sofort versteht (ansonsten ist’s keiner). Aber der perfekte Satz darf nicht wie andere Sätze sein, muss sich verhaken, soll ja nachhallen. Die Struktur des Satzes ist wichtig, doch wichtiger ist, was wir sagen wollen und welche Worte unseren Satz füllen.
Auch erste Liedzeilen können sich einprägen
Hier sind Liedzeilen, die ich nie wieder vergessen habe und mitunter unmotiviert, bisweilen öffentlich, vor mich hin summe: a) „Verdammp lang her, dat ich bei dir ahm Jraav wohr/ Verdammp lang her, dat mir jesprochen hann.“ („Jraav“ ist das Grab, Wolfgang Niedecken singt über seinen Vater.) b) „That sends me down to the river, though I know, the river is dry.“ (Bruce Springsteen singt über … ach, alles, Leben, Liebe, Vergeblichkeit.)
Das Deutsche muss übrigens nicht Kölsch sein, es bietet uns in all seinen Varianten allerlei Möglichkeiten, hat über 300.000 Wörter, unter anderem Geräuschverben: Es raschelt, klirrt, scharrt, platscht, rülpst oder summt in keiner anderen Sprache schöner als in unserer. Regel Nummer fünf: Lassen wir es handeln, Verben sind unser Fundament.
Satzpalindrome lassen sich vorwärts und rückwärts lesen
Machen wir etwas daraus, wir haben obendrein Vorbilder: „Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang.“ Oder: „Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der lasse sich begraben.“ (Schiller zuerst, Goethe hintendran.) Die verehrte Duden-Redaktion erklärt uns schließlich, wie „Satzpalindrome“ funktionieren (man kann sie aus beiden Richtungen lesen): „Ein Esel lese nie.“ „Reit nie tot ein Tier.“ „Die Liebe geht, hege Beileid.“
Es gibt perfekte Sätze in Reden: „Eehk been eyn Baer-leener“, so stand es 1963 angeblich in John F. Kennedys Manuskript. „Bleibt hungrig, bleibt albern“ (im Original „Stay hungry, stay foolish“) wird von Steve Jobs bleiben, so wie „Ich habe einen Traum“ („I have a dream“) von Martin Luther King Jr. und selbstverständlich „Gefangene werden nicht gemacht“ von Kaiser Wilhelm II., weshalb ich mir heute auch die Bemerkung verkneife, dass perfekte Sätze nicht passiv verfasst sein können.
Auch eine Kunst: der perfekte letzte Satz
Meinen liebsten perfekten Satz dieser Wochen, den jüngsten also, der es in mein Notizbuch geschafft hat, hat Vivian Gornick über ihre Mutter geschrieben, gedanklich noch im Alter an deren heiße Brust gepresst: „With Mama the issue was clear: I had trouble breathing but I was safe.“
Aufs Epische perfekt können aber auch jene Sätze sein, die den Text beenden. Max Frisch: „08.05 Uhr. Sie kommen.“
Klaus Brinkbäumer
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