Kultur: Der sanfte Schrecken
Grüber inszeniert "Iphigenie" an der Berliner SchaubühneVON GÜNTHER GRACK"Lebt wohl!" Der Abschiedsgruß, mit dem Thoas, König der Taurier, am Ende von Goethes Schauspiel die Griechin Iphigenie, ihren Bruder Orest und dessen Freund in ihre Heimat aufbrechen läßt: er ist so vieldeutig, Ausdruck gemischter Gefühle, wie das Schlußwort "Ach" der Alkmene in Kleists "Amphitryon".
Grüber inszeniert "Iphigenie" an der Berliner SchaubühneVON GÜNTHER GRACK"Lebt wohl!" Der Abschiedsgruß, mit dem Thoas, König der Taurier, am Ende von Goethes Schauspiel die Griechin Iphigenie, ihren Bruder Orest und dessen Freund in ihre Heimat aufbrechen läßt: er ist so vieldeutig, Ausdruck gemischter Gefühle, wie das Schlußwort "Ach" der Alkmene in Kleists "Amphitryon".Die Geschichte, die wir gesehen haben, hat ein glückliches Ende genommen für die Fremdlinge, die ihre Freiheit wiedergewinnen, jedoch ein unglückliches für den rauhen, aber nicht rohen Herrscher des Barbarenvolks.Er muß die Frau ziehen lassen, der er, vergebens, seine Liebe erklärt hat; "zum Pfand der alten Freundschaft", bittet sie, soll er ihr die Hand reichen, "ein holdes Wort des Abschieds" sagen.Wie dieses "Lebt wohl!" über die Lippen bringen? Von Herzlichkeit getragen? Von Trauer umflort? Von Bitternis ausgedörrt? In der Schaubühne am Lehniner Platz steht der Thoas des Ulrich Wildgruber abgewandt von Iphigenie und den beiden Männern.Er hat zuvor noch mit Orest unter einem Baum zusammengehockt, hat ihm etwas zu essen zugesteckt, Rosinen zum Kauen, Nüsse zum Knabbern, auch selber davon geatzt, und er hat sich das entscheidende "So geht!" abringen lassen.Nun aber, während Orest und Pylades seitwärts schon an dem leichten, lichten Vorhang nesteln, ihn zum Segel entfaltend, will Thoas das alles nicht mitansehen.Erst ganz zuletzt wendet er sich, Iphigenies Aufforderung folgend, den Abreisenden zu, und sein Abschiedsgruß verrät keine sonderliche Bewegung.Er klingt nüchtern - so nüchtern wie das fahle Licht der Morgendämmerung, das sich jetzt über den Küstenstrich ergießt. Die Ernüchterung, die hier auf dem Schauplatz liegt und damit den Ausgang von Klaus Michael Grübers Inszenierung prägt, will nicht so recht passen zu der "Stiftung von Humanität", in die das Drama, der Literaturwissenschaft zufolge, mündet: von "menschlichem Austausch zwischen Taurien und Griechenland".Immerhin ist es dem Einfluß Iphigenies zu verdanken, daß das Blutopfer, dem jeder fremde Eindringling in dem Land der Barbaren am Schwarzen Meer zum Opfer zu fallen befürchten mußte, künftig durch "ein freundlich Gastrecht" ersetzt werden mag.Aber auch Mykene selbst, das schuldbeladene Haus der Atriden, wird durch die Reinheit der von der Göttin Diana entrückten, gnädig für die Menschheit geretteten Agamemnon-Tochter entsühnt."Du Heilige", rühmt der Muttermörder Orest seine Schwester: "Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm, / Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele / Beschämt ..." Goethe hat sein Stück 1802, fünfzehn Jahre nach Abschluß der Versfassung, in einem Brief an Schiller "ganz verteufelt human" genannt und damit eine gewisse Skepsis gegenüber seinem eigenen idealistischen Überschwang angedeutet.Dennoch, ohne die dunklen Abgründe, über die sich die Priesterin Dianas erhebt, würde diese Humanität nicht funktionieren - sie sind, führt man die "Iphigenie auf Tauris" auf, stets in Erinnerung zu bringen. Daß gerade eine Inszenierung Grübers in dieser Hinsicht ein Manko erkennen läßt, muß verwunderlich erscheinen.Da gibt es mitunter zwar akustische Signale - hohl fauchende Töne, Donnergrollen -, die Gefahren ankündigen, das ganze Ambiente aber beschwört eine friedliche, natürlich-harmonische Atmosphäre herauf: Gilles Aillauds Bühnenbild lädt zum Bade auf einer mediterranen Ferieninsel.Ein heller Sandstreifen, darauf ein Feigenbaum und ein paar schirmförmige Pinien, darüber ein wolkenloser Himmel, an dem sich bei einbrechender Nacht das Sternbild des Großen Bären abzeichnet, im Vordergrund in voller Breite ein flaches Wasser, dessen Wellen sanft aufs Ufer schwappen.Iphigenies Domizil: ein von zwei Säulen gesäumtes Tempelchen, zu dessen höhlenschwarzem Eingang sieben Stufen führen; daneben, schräg in den Sand gebettet, mit rätselhaften Ritzmalen bedeckt, eine quadratische Steinplatte.Ein Opferaltar? Sollte hier früher ein blutiges Ritual stattgefunden haben? Oder auch jetzt noch zu erwarten sein? Der Regisseur erklärt es sowenig wie sein Bühnenbildner; erst recht nicht der Darsteller des Arkas, der sich mit einem geometrischen Gerät, einem Dreieck, an dem Stein zu schaffen macht: Wolf Redl gibt diesem Vertrauten des Königs seine gedrungene, Redlichkeit ausstrahlende Gestalt - und versäumt über seinem Tun, die werbende Botschaft, die er der priesterlichen Braut zu überbringen hat, in aller Dringlichkeit zu übermitteln.Und damit ist ein weiteres Manko dieses Abends benannt: der allzu gedämpfte, auf Halblaut bis Leise gestimmte Ton, der dem übermächtigen Anspruch der furchtbaren Vergangenheit, die es zu vergegenwärtigen gilt, nicht zu genügen vermag.Vor allem die Iphigenie der Angela Winkler spricht in dieser scheuen, mädchenhaft zarten Weise; in schlichtem goldgelben Gewand (Kostüme: Susanne Raschig), auf das ihr offenes dunkles Haar fällt, steht sie, die Finger verschränkt, in der Pose ängstlicher Selbstbehauptung da, sinkt in die Knie, schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen: Momente, in denen sie der Jammer überwältigt.Sylvester Groths Pylades sucht ihr freundschaftlich guten Mut zuzusprechen, doch erst gegen Ende gewinnt ihre Stimme Standhaftigkeit, ja Energie, etwa wenn sie gegenüber Thoas die Widerworte wagt: "Ich bin so frei geboren als ein Mann." Vermag es "der rohe Skythe", die Stimme der Menschlichkeit zu hören, "die Atreus, der Grieche, nicht vernahm"? Wildgrubers Thoas artikuliert diesen Selbstzweifel anrührend ernst, wie sich der Schauspieler überhaupt befleißigt, seine Neigung zu komischem Geblök zu bremsen.Ein bißchen lachhaft wirkt es nur, wenn der beleibte Mann sein Schwert erhebt gegen das kleine, aber feine Muskelpaket, das Martin Wuttke als Orest auf die Beine stellt.Wuttkes stärkste Szene: Orests Vision des Hades mit den Erscheinungen seiner mörderisch verstrickten Familie; am Ufer kniend, meint er seine Lieben unter Wasser wandeln zu sehen, beugt das Ohr horchend über das Naß. Furcht und Schrecken, uralt, nachzitternd bis heute, kommen an diesem Abend nicht auf.Anders 1817, als Karl Friedrich Zelter aus Berlin an Goethe schrieb, er habe "in Tränen gebadet" und der Beifall sei "unsäglich" gewesen.In der Schaubühne war er, nun ja, herzlich. Wieder am 15., 16., 17., 20., 21., 22.und 28.Februar, jeweils 19.30 Uhr.
GÜNTHER GRACK