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Museum für ein untergegangenes Land. Ein Bauarbeiter fährt Bauschutt von der Baustelle bei Renovierungsarbeiten im Berliner DDR-Museum, das beim Platzen des Aquariums im Hotel nebenan in Mitleidenschaft gezogen wurde.

© dpa/Carsten Koall

Deutsche Diversitätslücken: Der unsichtbare Ossi

Dirk Oschmann erklärt noch einmal voller Zorn, warum die Wiedervereinigung vor allem eine Ausweitung der Bundesrepublik Deutschland war.

Ja, es stimmt: Es gehört zu westdeutschen Deutungsselbstverständlichkeiten, sich selbst zur Norm zu setzen und alles Ostdeutsche als Anderes oder Abweichung wahrzunehmen. Ja, es ist richtig: Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz oder Wirtschaft werden zu lächerlichen Anteilen (1,7 Prozent) von Ostdeutschen besetzt, durchschnittlich liegt der Verdienst im Osten 22 Prozent unter dem im Westen, vererbt wird im Osten weit weniger als im Westen, ostdeutsche Immobilien gehören zu großen Teilen Westdeutschen. Und ja, auch das stimmt: Die mediale Sonderzonenberichterstattung von „Super-Illu“ bis „Zeit des Ostens“ macht das Repräsentanzdefizit des Ostens im vereinten Deutschland, macht eine vielgestaltige deutsch-deutsche Asymmetrie besonders augenfällig.

Was Dirk Oschmann in mal wütender, mal spöttischer, dann wieder analytischer Prosa zwischen zwei Buchdeckel presst, ist keineswegs neu. Das weiß er selbst. Seinen Text sprechen andere mal leise, mal laut seit 30 Jahren. Ihre Relevanz bezieht Oschmanns Streitschrift daraus, dass sie nicht Ossis Befindlichkeiten verhandelt, sondern die Demokratie der Bundesrepublik – und den Vorwurf, der bestenfalls drollige, meist aber prollige, irgendwie schräge, mehrheitlich sächsisch sprechende, auf jeden Fall aber diktaturgeschädigte und zunächst links, derzeit aber notorisch rechts wählende Osten würde genau diese Demokratie beschädigen.

Reaktion mit Verspätung

Dirk Oschmann ist Literaturwissenschaftler an der Universität Leipzig, genauer: der erste und lange Zeit einzige Ostdeutsche, der auf einen regulären Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturwissenschaft berufen wurde – im Jahr 2011, zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung. Heute gibt es ein paar mehr. Oschmann hat seine Herkunft ausdrücklich nicht zum Gegenstand seines Berufs gemacht, sondern sich in anerkannt exzellenter Form mit der Literatur der Aufklärung, der Klassik oder der klassischen Moderne beschäftigt. Alles gut abgehangene kanonische Texte über Autoren wie Lessing, Schiller oder Kafka.

Es ist das Recht eines Individuums oder einer gesellschaftlichen Gruppe, eine Identität nicht zugeschrieben zu bekommen.

Dirk Oschmann in „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“

Für den heute 55-Jährigen kamen Wende und Wiedervereinigung während des Studiums – genau richtig, um den Takeoff in die neue Freiheit zu genießen. Oschmann, daraus macht er kein Hehl, ist gefördert worden. In Deutschland, in den USA. Und weil sein Jahrgang 1967 verbürgt, dass er zu jung war, um in der DDR massive Schuld auf sich geladen zu haben, doch alt genug, um eine solide Erfahrung dieser Gesellschaft zu besitzen, war er gelegentlich ein ideologisch unverdächtiger Gast auf Podien zur ostdeutschen Wissenschaftsgeschichte.

Als er jedoch immer wieder auf die Rolle als Ostdeutscher festgelegt wurde, als ihm – offenbar einmal zu viel – mitgeteilt wurde, wie er über den Osten zu sprechen hätte, war es genug. Das Resultat: ein Zeitungsartikel, der vor einem Jahr in der „FAZ“ erschien. Aus dem Zeitungstext, der damals einige Wellen erzeugte, ist nun ein Buch geworden: zwar ähnlich in Tenor und Ton, aber um zahlreiche Fakten, theoretische Fundierungen und etliche Argumentationslinien erweitert.

Unfassbares Ossi-Bashing

Oschmann spricht eben nicht von einer Ost-Identität, sondern – mit dem französischen Philosophen Jacques Rancière – im Gegenteil von „Des-Identifizierung“: dem „Recht eines Individuums oder einer gesellschaftlichen Gruppe, eine Identität nicht zugeschrieben zu bekommen“. Er gräbt die Herkunft von Konzepten wie „Aufbau Ost“ im Dritten Reich aus, lässt das unfassbare Ossi-Bashing von Arnulf Baring über Wolf Jobst Siedler bis Armin Laschet Revue passieren, diskutiert die Löschung des Text- und Bildgedächtnisses der DDR in Literatur- und Bilderstreits.

Vor allem beschreibt Oschmann den „Totalausschluss“ des Ostens aus einem Wissenschaftsbetrieb, der sich einiges auf seine Avantgarde-Rolle bei Themen wie Diversität, Integration und Inklusion zugutehält, in dem sich aber die vor 30 Jahren installierten westlichen Eliten munter aus sich selbst rekrutieren. Und auf seinem ureigenen Terrain, der Literatur, deutet Oschmann den Erfolg der Post-DDR nicht nur als Aufmerksamkeitsakkumulation des kommerziellen Labels „Osten“, sondern begründet die Qualität der Texte mit dem fortgesetzten Mangel anderer Öffentlichkeiten. Bei alledem heißt es in wünschenswerter Klarheit: „Ganz fraglos war die DDR ein Unrechtsstaat.“

Man könnte also darüber nachdenken, ob es tatsächlich dem Osten geschuldet ist, dass die 30-jährige deutsch-deutsche Unwucht heute demokratiegefährdend wird. Vielleicht entspringt diese Gefährdung ja auch aus der machtgestützten, arroganten Überzeugung, dass die gegenwärtige Demokratie der Bundesrepublik die beste aller Welten sei und Kritik an ihr als Demokratiekritik tout court zu werten ist?

Die Profiteure von der AfD

Der Osten, daran sei erinnert, hat mehr soziale Verfassungen am eigenen Leib erfahren als der Westen. Und sorry: Der Osten hat dem Westen eine Revolution voraus. Das will nur niemand wahrhaben – außer der im Westen gegründeten AfD, die daraus Profit zieht. Und könnte es sein, dass die Demokratie der Bundesrepublik Schaden nimmt, wenn ihre vierte Gewalt in Gestalt journalistischer Medien – gelinde gesagt – unter ihren Möglichkeiten bleibt? Wenn in den Corona-Debatten Leute aus dem Erzgebirge als Sachsen en bloque zu Impfgegnern, ergo AfD-Wählern ergo Nazis und also Totengräbern der Demokratie hochgerechnet werden – tatsächlich aber seit Jahrzehnten als überzeugte Grünen-Wähler in ihren Dörfern so selbstverständlich wie lustvoll rechte Parteien bekämpfen?

Gegen Dirk Oschmanns Buch kann man einwenden, dass die Polarisierung und Polemik des Zeitungsartikels hier hätte zurücktreten können. Ja, es gibt ein paar zu viele Ausrufezeichen, es gibt das eine oder andere überflüssige Nachtreten in einem Halbsatz. Gegen diese Aufgeregtheit hilft vielleicht Selbstbefragung. „Zitternd“, so heißt es, sei er nach der Abfassung des „FAZ“-Artikels vor einem Jahr „vom Schreibtisch aufgestanden“. Die körperliche Reaktion ist plausibel – doch warum und mit welchen Folgen hat Oschmann über viele Jahre hinweg so viel verdrängt, was sich nun Bahn bricht?

Und nun? Oschmanns Position dürfte akademisch-institutionell teils erschüttert werden, insofern ein paar Kollegen nicht mehr mit ihm reden, teils dürfte sie an Profil gewinnen. Vermutlich spricht der Literaturwissenschaftler demnächst mehr auf politischen Podien als auf Schiller-Tagungen. Das ist gewiss kein Unglück.

Aus einer literaturbetrieblichen Perspektive freilich ist einem Germanistikprofessor nur der Kragen geplatzt und ein wacher Literaturagent hat in einem Zeitungsartikel das Buch gewittert, das nun in der Welt ist. Auch das ist kein Unglück. Aber ist es schon Glück? Glück wäre, wenn sich mittelfristig die Macht- und Repräsentationsverhältnisse ausglichen und künftig wenigstens gröbste Demütigungen unterblieben. Und, es mag paradox klingen: Weil es sich um ein markiertes Gelände handelt, das förderungspolitisch attraktiv war, ist die DDR in ihrer politischen, sozialen und Alltagsgeschichte sehr gut erforscht. Weniger Licht fällt noch immer auf die alte Bundesrepublik – dem vermeintlichen Normalfall. Diese Unordnung der Dinge verlangt vor allem eines: eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte.

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