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Paar am Pool. Friedrich Dürrenmatt und seine erste Ehefrau Lotti im Garten ihres Hauses in Neuchâtel.

© DCM

Dichtung und Liebe: Die Ehe des Herrn Dürrenmatt

Sabine Gisigers Dokumentarfilm „Dürrenmatt – Eine Liebesgeschichte“ ist keine simple Homestory, sondern ein sensibles Autorenporträt.

„Gibt es noch mögliche Geschichten, Geschichten für Schriftsteller?“ So fragte Friedrich Dürrenmatt 1955 im Vorwort zu seiner Erzählung „Die Panne“. Gewiss, das war nur rhetorisch gemeint, aber bestimmte Geschichten schloss er für sich grundsätzlich aus. Einer wie er wollte keinesfalls von sich erzählen, nicht „lyrisch sein Ich verallgemeinern“, fühlte „keinen Zwang, von seinen Hoffnungen und Niederlagen zu reden, durchaus wahrhaftig, und von seiner Art, bei Frauen zu liegen“. Da muss ein Film wie „Dürrenmatt – Eine Liebesgeschichte“, der erklärtermaßen dem innigen Verhältnis zwischen dem Autor und seiner ersten Frau Lotti nachspüren will, zunächst auf Misstrauen stoßen. Eine Homestory über die Dürrenmatts? Das wäre nun wirklich eine unmögliche Geschichte.

Ein unglücklich gewählter, irreführender Titel, aber das ist schon das Einzige, was man dem Dürrenmatt-Porträt der Schweizer Dokumentarfilmerin Sabine Gisiger vorwerfen kann. Allzu intime, die Grenze des Privaten unzulässig überschreitende Details erfährt man keineswegs. Die symbiotische Beziehung zwischen Lotti und Fritz steht durchaus nicht aufdringlich im Vordergrund; sie ist nur der mitunter recht dünne rote Faden der sensiblen, den Autor, seine Gedankenwelt, sein Werk und auch seine Ehe behutsam schildernden Biografie, die dem vor 25 Jahren gestorbenen Schweizer ein faszinierendes filmisches Denkmal setzt. Nebenbei zeichnet sie die Wurzeln bestimmter wiederkehrender Motive und Stoffe in Dürrenmatts Werk nach. So erklärt er etwa seine Aversion gegen künstliche Gliedmaßen – siehe die alte Dame Claire Zachanassian – mit einem einarmigen Gemüsehändler aus Dürrenmatts Heimatdorf, der mit seiner Prothese immer die Salatköpfe zur Seite schob. Der kleine Fritz muss sich da sehr gegruselt haben.

Sabine Gisiger, für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet, kannte den Autor seit ihrer Kindheit persönlich. Ihr Vater und Dürrenmatt hatten auf einem Berner Gymnasium dieselbe Klasse besucht, die damals geschlossene Freundschaft hatte sich erhalten. Im Vorjahr drehte Gisiger fürs Schweizer Fernsehen das hochgelobte Porträt „Dürrenmatt im Labyrinth“, wertete dafür aus Archiven rund 80 Stunden an Film- und Bildzeugnissen aus. Persönliches, Familiäres gar tauchte darin kaum auf – und muss das Schaffen Dürrenmatts doch stärker geprägt haben, als bislang bekannt oder zu vermuten war.

Diese Leerstelle hat Gisiger nun geschlossen. Auch Dürrenmatts Schwester Verena und seine Kinder Peter und Ruth waren von dem TV-Film offenbar so angetan, dass sie vor der Kamera ausführlich über ihren weltberühmten Verwandten Auskunft gaben – übrigens stets in Schwyzerdütsch, was hierzulande Untertitel erforderlich machte. Dürrenmatts Entscheidung für die Schriftstellerei und seine Eheschließung mit der Schauspielerin Lotti Geissler geschahen fast zeitgleich, und seit jeher muss der Austausch mit seiner Frau über die eigene Arbeit für Dürrenmatt immens wichtig gewesen sein.

„Das ist eigentlich nicht in der Logik der Figur“: Auf solche Einwände reagierte Dürrenmatt zwar meist gereizt, verschwand dann aber im Arbeitszimmer – und hatte den von seiner Frau monierten Fehler Stunden später behoben. Gleichwohl schwebte über der fast 40 Jahre, bis zu Lottis Tod 1983 währenden Ehe „eine dunkle Wolke“, wie Ruth Dürrenmatt erzählt. Ihre Mutter litt zuletzt häufig unter Depressionen, und stets war dann, wie Ruths Bruder Peter es beschreibt, auch der Vater „ganz zitterig“. Der verlor, als sie überraschend starb, fast jeden Lebensmut, wusste „eigentlich nicht mehr, wie man leben soll“, wie er es damals beschrieb: „Und plötzlich, wenn man auf sich selbst zurückgeworfen ist, stellt sich einfach die Frage: Wie kann man noch produktiv sein?“

Dank seiner zweiten Frau, der Schauspielerin und Regisseurin Charlotte Kerr, die er bereits ein Jahr später heiratete (und gerne Lotti nannte), hat er noch mal zu alter Kreativität zurückgefunden und in „Stoffe I – IV“, seinem bilanzierenden „Versuch, die Geschichte meiner Stoffe zu schreiben“, auch den Tod Lottis geschildert, den er als Sturz in die Unendlichkeit erlebt hatte: „Ich kam von der Vorstellung nicht los, meine Frau würde sich mit Lichtgeschwindigkeit von mir entfernen, jede Sekunde dreihunderttausend Kilometer, achtzehn Millionen Kilometer jede Minute, mehr als tausend Millionen jede Stunde, aber nicht nur von mir entfernte sie sich, auch ich entfernte mich von mir selbst, wir sanken beide dahin in einem lichtschnellen Fall, stürzten beide in die Erinnerung hinab“. Diese Passage, gelesen von Ruth Dürrenmatt, ist die berührendste Szene des 75-minütigen Films.

Sieben Jahre nach Lottis Tod starb auch Dürrenmatt, wurde neben ihr begraben, im Garten seines Hauses über dem Neuchâteler See – wie 2011 dann Charlotte Kerr, so hatte sie es sich gewünscht. Dass dort bereits ihre Vorgängerin lag, wusste sie nicht – Dürrenmatts Tochter erzählt es lachend, wohl nicht ganz frei von Schadenfreude: „Eine richtig typische Dürrenmatt-Geschichte.“ 

Delphi, Filmkunst 66, Kulturbrauerei und International

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