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Kultur: Die Chronistin

Fotos von Hildegard Ochse im Haus am Kleistpark.

Die Haartolle, der dicke Lidstrich, das wild gemusterte Kostüm mit Schulterpolstern – sie schreien förmlich „Saturday Night Fever“. Die Sekretärin sitzt hinter einer nach heutigem Verständnis überdimensionierten Schreibmaschine und tippt mit langen, manikürten Fingernägeln einen Text. 85 000 Beamte arbeiteten in den 80er Jahren in der West-Berliner Verwaltung, diese Frau ist eine davon. Hildegard Ochse hat in ihrer Fotoreihe „Der Eid auf die Verfassung“ Beamte in ihren Arbeitsräumen porträtiert. Es sind Fotos, die zunächst unspektakulär wirken, auf den zweiten Blick aber weit über reine Dokumentarfotografie hinausgehen. Allgegenwärtig ist der Pullunder vor den Aktenschränken, auf denen meist stachelige Zimmerpflanzen stehen. Das Spektrum reicht von der Senatorin Hanna-Renate Laurien bis zu vier Polizeischülern, die in ihrem Aufenthaltsraum Plakate von „American Fighter“ und die Flagge der Konföderation aufgehängt haben. Nicht nur das Amt, der Dienst am Staat, sondern der Mensch steht bei Ochse im Vordergrund.

Die Ausstellung „Hildegard Ochse – Das Vermächtnis einer Autorenfotografin“ im Haus am Kleistpark (bis 29.7., Grunewaldstraße 6-7, Di-So 10-19h) zeigt eine Auswahl von Fotoreihen aus dem Nachlass der Künstlerin, der 55 000 Negative umfasst. Erst im Alter von vierzig Jahren begann Ochse, sich autodidaktisch mit Fotografie zu beschäftigen – zu einer Zeit, in der sich auch die Fotografie selbst im Aufbruch befand und begann, sich als ernst zu nehmende Kunstform zu etablieren. Ochse fängt mit ihren mit Schärfe und Unschärfe spielenden Zeitzeugnissen das Lebensgefühl West-Berlins in den 70er und 80er Jahren ein: von den während des Boykotts durch die West-Berliner Bevölkerung brach liegenden, verwilderten S-Bahn-Strecken über die junge Boheme des Café Mitropa bis hin zu den schaurig-melancholischen Fotos der Überreste der Mauer, nachdem sie gefallen war. Annika Brockschmidt

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