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Kultur: Die Fischer von Eyl

Sie lebten vom Meer. Bis Somalia in Bürgerkrieg und Chaos versank. Dann kam der Tsunami und nahm die letzte Hoffnung. Was bleibt? Freibeuterei.

Alex Hamud zögert nicht lange. „Auch wenn es nicht ganz ungefährlich ist“, sagt der zweieinhalb Zentner schwere Mann mit der Statur, die Furcht nicht kennt, „ich komme mit.“ Der 26-jährige Schiffsagent aus dem an der Spitze des Horns von Afrika gelegenen somalischen Hafenstädtchen Bossaso hat noch eine Rechnung mit den von uns gesuchten Leuten zu begleichen: Sie haben drei von ihm betreute Schiffe entführt – zwei der Frachter waren mit Getreide für die von der Tsunami-Welle und einer anhaltenden Trockenheit ausgehungerten Bevölkerung beladen. „Für mich“, empört sich Alex, „sind diese Leute übelste Verbrecher.“

In Schifffahrtskreisen werden sie Piraten genannt. Angehörige jener Zunft, die einst mit Enterhaken, Holzbein und Augenklappe die Weltmeere unsicher machte und eigentlich nur noch in Räuberromanen fortzuleben schien. Bis waghalsige und mit Bazookas bewaffnete Männer im vergangenen Jahr vor der fast 3000 Kilometer langen Küste des führungslosen Anarcho-Staats Somalia für Schlagzeilen sorgten: Innerhalb eines Jahres entführten die zeitgenössischen Seeräuber fast 40 Fischkutter oder Frachter und versuchten ein amerikanisches Kreuzfahrtschiff in ihre Gewalt zu bringen. „Somalias Küste ist zur gefährlichsten Schiffsroute der Welt geworden“, warnt ein Sprecher des Internationalen Maritimen Büros (IMB), einer Einrichtung der Internationalen Handelskammer.

Wer die Piraten sind und was sie zu ihren immer gefährlicheren Attacken treibt, war den Presseberichten nicht zu entnehmen. Somalia ist kein Land, in das Reporter mal eben einfliegen, um einer Frage nachzugehen: Nach 15 Jahren Regierungslosigkeit ist das Horn von Afrika ein von Kriegsherren und schießwütigen Milizionären beherrschtes No-Go-Territorium – niemand zweifelt daran, dass auch die Piraten dem Dunstkreis solcher Räuberbanden zuzurechnen sind.

Einem ungewöhnlich konkreten Agenturbericht entnehmen wir, dass in „Marreray, einem Fischerdörfchen in der somalischen Puntlandprovinz“ mehrere von ihren schmutzigen Geschäften steinreich gewordene Piraten leben sollen. Vor Ort stellt sich allerdings heraus, dass es ein puntländisches Fischerdörfchen namens Marreray nicht gibt – nur ein wenige Kilometer außerhalb Bossasos gelegenes Fischerdörfchen Marrero, das allerdings auch schon seine Existenz beendet hat. In und um Bossaso, heißt es, gibt es keine Piraten. Das nächstgelegene Seeräubernest befinde sich im fast 700 Kilometer entfernten Hafenstädtchen Eyl. Eine zweite Hochburg der Piraterie, Haradere, sei noch mehrere hundert Kilometer weiter entfernt und für Nichtangehörige des dort angesiedelten Hawiya-Unterclans der Sa’ad tabu. „Nach Haradere komme ich nicht mit“, erklärt Alex. Also Eyl.

Was dort auf uns zukommt, wird schon im Hafen von Bossaso deutlich. An einem Kai sind zwei mit schweren Maschinengewehren ausgestattete Küstenwachboote vertäut, mit denen der somalische Geschäftsmann Hiif Ali Taar seine Fischkutterflotte gegen die Konkurrenz und Seeräuber zu schützen sucht. Der indische Kapitän der zehnköpfigen Besatzung deutet auf die Frontscheibe seiner Kommandobrücke, die beim letzten Gefecht auf hoher See zerschmettert wurde: Wenn das feindliche Geschoss nicht ausgerechnet auf einem im Glas eingelassenen Metallring gelandet wäre, müssten wir heute mit Kapitän Vishal Nazareths Nachfolger reden. Nazareth leidet unter Migräne-Anfällen, seit ihn ein Pirat mit einer Eisenstange niederstreckte: „Dort draußen herrscht Krieg“, sagt der Piratenjäger.

Bossasos Polizeihauptmann ordnet für die Fahrt nach Eyl bewaffneten Begleitschutz an. Wir verweigern den Befehl: Ein martialischer Auftritt würde uns die Chance einer arglosen Annäherung an die Piraten nehmen. Unser bester Schutz ist der aus der Umgebung Eyls stammende Fahrer: Dem richtigen Clan, Unter- oder Unter-Unter-Unter-Clan anzugehören, ist in Somalia manchmal mehr wert als eine Privatarmee.

Während der Fahrt zur puntländischen Hauptstadt Garowe auf der einzigen geteerten Überlandstraße der Provinz passieren wir auf fünfhundert Kilometern 16 Straßensperren, doch wenigstens wird man hier nicht wie in anderen Teilen Somalias wie ein rollendes Sparschwein abgezockt. Jenseits der getönten Scheiben zieht eine endlose karge Landschaft vorbei: Seit drei Jahren herrscht hier Dürre, Hunderttausende sind am Horn von Afrika auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Wir passieren Flüchtlingslager, in denen unter zerfetzten Plastikplanen gestrandete Nomaden und Opfer der Tsunami-Welle vegetieren.

„Schon seit der italienischen Kolonialzeit ist die Küstenregion total vernachlässigt“, sagt Abdirahman Shuke von dem aus dem Ausland finanzierten kleinen Puntländischen Entwicklungs- und Forschungszentrum (PDRC) in Garowe: Auf 650 Kilometer habe es an der Küste bis vor kurzem nur zwei funktionierende Schulen und drei Gesundheitsstationen gegeben. Aber keine Latrinen. Dass dort überhaupt noch Menschen ausharrten, sei allein den reichen Fischgründen, einschließlich der Hummerbänke, zu verdanken – doch auch diese sind gefährdet, seit ausländische Fischerflotten immer tiefer in die somalischen Gewässer eindringen. „Nachts“, sagt Shuke, „sieht das Meer oft wie die Skyline von Manhattan aus.“ Hell erleuchtete und mit riesigen Schleppnetzen ausgerüstete Kutter plünderten die Fischgründe aus und hämmerten mit schwerem Gerät auf Korallenbänke ein, um die Krustentiere aufzuscheuchen. „Und weil wir weder einen Staat noch eine Streitmacht haben“, fügt der Zentrumsdirektor hinzu, „können die puntländischen Fischer den Eindringlingen so gut wie nichts entgegensetzen.“

Und Hiif Ali Taars Küstenwache? „Wir sind gut im Töten, aber leider nicht so gut im Lebenretten“, sagt der Geschäftsmann, als wir ihn und zwei schwerbewaffneten Bodyguards in einer Kneipe in Garowe treffen. Für Hiif sind die unter Druck geratenen heimischen Fischer eher Konkurrenten als schützenswerte Landsleute: Denn der Geschäftsmann lebt davon, ausländischen Fischern Fanglizenzen für die somalischen Gewässer zu verhökern. Von den Einnahmen unterhält Hiif eine 200-köpfige Privatarmee sowie die beiden Schnellboote, die den Herrn des Meeres und Besitzer zahlreicher Immobilien zum gefürchtetsten Kriegsfürsten des Puntlands machen.

Zur Küste nach Eyl sind es von Garowe aus nur 250 Kilometer – doch weil es sich um einen bloßen, streckenweise über Felsen führenden Feldweg handelt, sind wir selbst mit dem allradgetriebenen Landcruiser sieben Stunden lang unterwegs. Auf der gesamten Strecke begegnet uns ein einziges Fahrzeug. Kein Wunder, dass man uns geraten hatte, mit zwei Fahrzeugen, einem Satellitentelefon und bewaffnetem Begleitschutz aufzubrechen. „Falls ihr es euch leisten könnt“, hatte der Gästehaus-Besitzer in Garowe gesagt. Wir konnten nicht. Stattdessen trafen wir Abdisalaam Said Issa. Der 32-jährige ehemalige Fischer aus Eyl unterrichtet inzwischen Meeresbiologie und tritt bei Schiffsentführungen gelegentlich als Unterhändler zwischen Seeräubern und Schiffsbesitzern auf. „Ich berate die Piraten, was den Wert eines gekidnappten Frachters angeht“, erzählt Abdisalaam unumwunden, „und appelliere an sie, mit der Besatzung schonend umzugehen.“

Abdisalaam schildert die Schwierigkeiten, mit denen die Eyler Fischer schon seit Jahren zu kämpfen haben. „Wir fingen weniger und weniger Fische“, erzählt der Unterhändler. „Immer häufiger wurden unsere Netze von den ausländischen Kuttern zerrissen, manchmal nehmen sie auch einfach unsere Netze mit.“ Irgendwann seien die jungen Fischer Eyls so wütend geworden, dass sie die überall in Somalia erhältlichen russischen Schnellfeuergewehre genommen und den Eindringlingen den Kampf angesagt hätten. Die ersten Kutter wurden „beschlagnahmt“, deren Besitzer zahlten anfangs meist ohne viel Widerstand bis zu 500 000 Dollar Lösegeld. Sie wussten, dass die eigene Gesetzestreue nicht weit reicht.

Dann aber rüsteten die Fischer aus Thailand, Spanien, China oder Russland auf. Sie montierten Maschinengewehre auf ihre Kutter und heuerten somalische Milizionäre an, die sich bereit erklärten, ihre Landsleute für ein paar Dollar im Monat abzuknallen. „Ich weiß nicht, wie viel unserer Leute bei den Kämpfen auf hoher See bereits ums Leben gekommen sind“, sagt Abdisalaam: „Jedenfalls werden immer wieder leere oder zerstörte Boote an Land geschwemmt, einmal fingen sie sogar drei unserer jungen Männer und nahmen sie nach Thailand mit.“ Was dort mit ihnen geschah, weiß keiner.

Endlich in Eyl. Wäre Somalia Mallorca und führte eine Teerstraße nach Eyl, dann würden hier Luxusunterkünfte in die Lüfte ragen. Der spektakuläre Zusammenprall von Felsenküste, Sandstrand und warmem Meer bietet ideale Bestandteile für ein Urlaubsparadies. Statt Vergnügungsmeilen und Hotels muss sich Eyl jedoch mit Ruinen einer einst von der Sowjetunion gebauten Radarstation, einer verlassenen Klinik sowie einem alten, steinernen Fort begnügen, das ein gewisser Said Mohamed Abdullah Hassan vor mehr als hundert Jahren hier errichtete – Relikt eines verzweifelten Kampfes gegen britische und italienische Kolonisatoren.

Unsere Ankunft an diesem Ende der Welt löst keine Freudenstürme aus. Erst als Abdisalaam in unserem Wagen wahrgenommen wird, verwandelt sich die Feindseligkeit in neugierige Skepsis, und nach einigem Hin und Her wird eine Dorfversammlung einberufen. „Wir haben hier schon genug weiße Gesichter in noblen Autos gesehen, die alle versprochen haben, uns zu helfen“, sagt einer der Dorfältesten, „passiert ist nie etwas.“

Die internationale Helferschaft entdeckte Eyl und den puntländischen Küstenstreifen, nachdem vor einem Jahr die Tsunami-Welle auf die Küste geknallt war, unzählige Fischerboote zerdeppert und Netze sowie Außenbordmotore mit sich gerissen hatte. Danach verließen noch mehr verarmte Fischer die Küste, die Zurückgebliebenen wurden vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen vorübergehend mit Getreidesäcken und Sonnenblumenöl versorgt. Man versprach ihnen auch neue Boote, damit sich die Fischer wieder selbst ernähren könnten – von denen fehlt jede Spur. „Allah hat die Welle geschickt, er wird uns auch helfen“, sagt ein anderer Ältester. „Von euch erwarten wir schon längst nichts mehr.“ Wichtiger als Getreide und Sonnenblumenöl wären ohnehin bewaffnete Schnellboote, mit denen die Eyler den ausländischen Fischerflotten trotzen könnten – doch welche Hilfsorganisation finanziert Seeräubern schon ein Piratenschiff? „Nacht für Nacht kommen die Kutter näher“, ruft ein Fischer, „und uns fehlt selbst das Diesel, um ihnen auflauern zu können.“

Aus dem Kidnapping von Kuttern macht hier keiner einen Hehl, nur das Piraten-Etikett wird als Beleidigung verstanden. „Wir sind keine Seeräuber“, sagt einer, „wir verteidigen nur, was uns gehört.“ Und da sind sie wieder, die Freibeuter der Meere, zumindest fühlen sie sich so. Stolz ist zu spüren, wenn diese Männer erzählen, dass sie die ersten gewesen seien, die ausländische Fischkutter in ihre Gewalt gebracht hätten. Die Pioniere des neuen Seeraubs geben sich moralisch integer, sie heißen lediglich die Entführung von Fischkuttern gut, nicht aber die von gewöhnlichen Frachtern. „Ich sehe das anders“, sagt eine Stimme leise, aber klar.

Sie gehört Mohamed Jusuf Ali. Er ist 33 Jahre alt, hat eine Frau, vier Kinder und ein offenes, sympathisches Gesicht. „Was würdet denn ihr machen, wenn euch die Lebensgrundlage genommen wird und ihr eure Familie nicht mehr ernähren könnt“, fragt er. „Wenn wir gegen die bewaffneten Kutter keine Chance mehr haben, dann holen wir uns eben Frachter.“ Viermal war Mohamed nach eigenen Angaben bisher an einer Schiffsentführung beteiligt: Zuletzt hat er sich mit seinen Kumpanen einen Stahlfrachter aus Südafrika gegriffen. Reich ist er davon nicht geworden. Die Beute wird zwischen Piraten, Dorfältesten, Unterhändlern und allen möglichen anderen Beteiligten verteilt. Und immer wieder kommt es vor, dass ein betrügerischer Kollege mit einem ganzen Batzen verschwindet. Das meiste, was Mohamed durch eine Schiffsentführung ergattern hat, waren 7000 Dollar – und die verteilte er nach eigenen Worten in der Großfamilie.

Am nächsten Morgen nimmt uns Mohamed in seinem kleinen Seeräuberboot zu einer Spritztour mit. Das Meer ist rau: Die kaum fünf Meter lange Fiberglasschale donnert mit Schlägen, die Wirbelsäulen zu zerbrechen drohen, in den Wellentälern auf. Im Falle eines Raubzugs verbringen fünf bis sechs junge Männer oft mehrere Tage in diesen Jollen auf hoher See: Geschlafen wird auf dem bebenden Boden. Angegriffen wird meist nachts und möglichst leise, berichtet Mohamed. Um an Bord der großen Pötte zu gelangen, führen die Piraten wie ihre historischen Ahnen Strickleitern und Seile mit Enterhaken mit sich. Immer öfters aber kommt es bei der Enterung zu Kämpfen. Selbst Frachter sind inzwischen mit Schläuchen ausgerüstet, aus denen kochend heißes Wasser auf die Angreifer gespritzt wird. Zwei Freunde Mohameds sollen sich auf diese Weise schon schwere Verbrühungen zugezogen haben. Und der US-Luxusliner, den die Piratenkollegen aus Haradere angegriffen haben, wehrte sich sogar mit einer Lärmkanone: Der ohrenbetäubende Krach schlägt selbst hartgesottene Seeräuber in die Flucht.

Seine Zukunft als Berufspirat sieht Mohamed folgerichtig trist. „Natürlich wird es immer gefährlicher, ein Schiff in unsere Gewalt zu bringen“, sagt er, „aber was bleibt uns anderes übrig?“ Kurz vor der Abreise hören wir, dass bereits seit Tagen ein 20-köpfiges Kommando junger Männer aus Eyl mit drei Booten unterwegs ist. „Die haben so viel Zeit, Diesel und Essen investiert“, meint Mohamed, „die müssen mit etwas zurückkommen – ob es nun ein Fischkutter oder ein Frachter ist.“

Nach Bossaso zurückgekehrt, erfahren wir, dass der US-Zerstörer Winston S. Churchill vor der somalischen Küste zehn Piraten aufgegriffen hat. Zunächst heißt es, sie würden ins US-Terrorspezialgefängnis nach Guantanamo Bay gebracht. Das blieb ihnen erspart, sie stehen jetzt in Mombasa vor Gericht. Freibeuter haben keine Chance mehr.

Johannes Dieterich

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