Kultur: Die Gentlemen-Schocker
Vierzig Jahre Kunst: Die Londoner Tate Modern würdigt das Performerpaar Gilbert & George
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Das hat vor ihnen noch keiner geschafft: ein komplettes Geschoss der Tate Modern in London auszufüllen. Natürlich ist das eine große Ehre. Saal um Saal schaut das englische Duo Gilbert & George den Betrachter von seinen riesigen Fototafeln herab an, insgesamt auf 200 Werken über zwanzig Räume hinweg. Die beiden Exzentriker zelebrieren hier ihre 40-jährige Künstlerpartnerschaft und Karriere. Für sie ist es ein später Triumph. Denn bisher hat sich die britische Museumswelt immer schwer damit getan, die beiden soignierten Herren und ihren zu Riesenbildern aufgeblasenen Schmuddelkram entsprechend zu ehren.
Die Präsentation 2005 im britischen Pavillon auf der Biennale von Venedig war letztlich eine Anerkennung fern der Insel. Die vielen internationalen Ausstellungen in den letzten Jahren von Amsterdam bis New York konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die offizielle Würdigung daheim fehlte. Feinsinnige Beobachter sehen deshalb in der Tate Modern als Ausstellungsort für ihre große Retrospektive, dem umgebauten Kraftwerk am rechten Themseufer, eine gewisse Einschränkung, auch wenn der Auftritt überwältigend ist. „Anständige“ Künstler wie Bridget Riley oder Anthony Caro haben schließlich ihren Ritterschlag in der altehrwürdigen Tate Britain bekommen, unweit von Westminster Abbey.
Eine zwangsweise Verkleinerung der Ausstellungsdimensionen, wie sie in der Tate Britain aufgrund der kleineren Säle notwendig gewesen wäre, hätte dem überbordenden Projekt eher gut getan. So stellt sich nach der Ouvertüre mit den aufregenden ersten Jahren, als sich Gilbert & George 1967 als Studenten der Londoner St. Martin’s School of Art in der Bildhauerklasse trafen und ihre Idee der living sculpture Form annahm, gefolgt von den grandiosen Siebzigern mit ihren provokanten Auftritten und den eindrucksvollen, nun wieder hervorgeholten lebensgroßen Zeichnungen eine gewisse Erschöpfung beim Betrachter ein. Aber auch die Künstler zeigen Ermüdung.
Nie mehr hatten ihre Arbeiten – das lässt sich anhand einer Übersichtsschau deutlich erkennen – eine solch poetische Dimension, nie mehr solche Sprengkraft wie in dieser Zeit, als das stets perfekt in identischen Maßanzügen gekleidete Männerpaar die reglementierte britische Gesellschaft mit stundenlangen, aberwitzigen Gesangsperformances unter freiem Himmel und systematischen Besäufnissen in der Öffentlichkeit parodierte. Im homophoben Großbritannien, das erst kurz zuvor das gesetzliche Verbot gleichgeschlechtlicher Liebe aufgehoben hatte, war man über diese beiden Burschen mit den ansonsten tadellosen Manieren not amused. Auch im Kunstmilieu reagierte man eher irritiert auf die beiden begnadeten Selbstdarsteller, denn zu dieser Zeit waren Konzeptkunst, Minimalismus, Land-Art angesagt, aber keine Spielerei mit der Gattung Performance.
Gilbert und George aber blieben sich und ihrer Auffassung von neuer Skulptur treu und fügten dem erweiterten Kunstbegriff einen weiteren Aspekt hinzu. Ihren Platz in der neueren Kunstgeschichte haben sie damit sicher. In einer Retrospektive besteht allerdings die Gefahr, dass ein großer Künstler, ein Erfolgsgespann wie G & G genau an jenen kraftvollen Anfängen gemessen wird. Ihre heute den Markt überschwemmenden poppigen Fotocollagen mit plakativer Rhetorik verdeutlichen umso mehr die Fallhöhe.
Bei den zarten, knallharten Schwarz- Weiß-Bildmontagen des Anfangs wie etwa „Coming“ (1975), das trotz des arglosen Augenaufschlags der beiden Gentlemen keiner Deutlichkeit entbehrt, oder den melancholischen Aufnahmen der „Dusty Corners“ und „Dead Boards“ in ihrem Haus im Londoner Spitalsfield konnte es nicht ewig bleiben.
In den frühen Achtzigern perfektionierten die beiden auf den ersten Blick grundsoliden Burschen – der eine, George Passmore, 1942 geboren im englischen Devon, der andere, Gilbert Proersch, ein Jahr später in den Dolomiten – ihr Konzept der aus Rechteckfeldern gebildeten Tableaux mit knalligen Signalfarben und stets mit schwarzem Rand umfangenen Bildelementen ins Überdimensionale. Plötzlich waren nicht mehr sie allein die Protagonisten, sondern traten mit Londoner Straßenjungs auf. Alle möglichen Körpersäfte ergossen sich dekorativ auf den Tafeln, dazu konstruierten sie aus Exkrementen den Rahmen. Dazwischen saßen die beiden züngelnden Herren, gerne auch nackt, ohne den obligatorischen Maßanzug. In den Neunzigern erweiterten sie noch einmal ihr Spektrum: von den eigenwilligen Milieustudien aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft im Londoner East End mit seinen Strichern hin zu einer politischen Botschaft.
So kreisten ihre gigantischen Fotocollagen nicht länger allein um homoerotische Fragen, sondern thematisierten nun das Zusammenleben der Religionen, die gefährdete Natur, die terroristische Bedrohung – allerdings um den Preis zunehmender Banalisierung. Am Ende landeten sie bei einem 18 Meter langen Mammutwerk, für das nur noch im Treppenhaus der Tate Modern Platz blieb. Als Grundlage dienten ihnen die Zeitungsschlagzeilen aus den Tagen der Bombenanschläge von London im Juli 2005, in denen signalhaft immer wieder die Begriffe „Bomber“ und „Bombe“ auftauchen. Ihre eigene Aussage ist von den schlichten Headlines nicht sonderlich weit entfernt.
Auf die Produktivität der beiden mittlerweile grau melierten Herren, die sich für den Fotografen in bester Performermanier mit gleichbleibend liebenswürdiger Miene gegenseitig den Finger in den Rachen stecken, hat sich enorm ausgewirkt, dass sie in ihrem ebenfalls seit vierzig Jahren bewohnten Haus über das perfekte digitale Equipment verfügen. Dort basteln sie sich ihre diversen Bildelemente zusammen, verdoppeln in letzter Zeit mit Vorliebe mal ihre rechte, mal die linke Körperhälfte zu einer völlig neuen Einheit, die das Motiv der eigenen Zweiheit noch einmal ad absurdum führt.
Ähnlich wie bei den Riesensälen der Tate Modern führt diese neue technische Freiheit nicht unbedingt zum besseren Ergebnis. Das Resultat ist hypertrophe Computerspielerei. Doch dieses Problem haben nicht erst Gilbert & George, die Kunstgeschichte kennt es schon lange, wenn Künstler in die Jahre kommen. Im Haupthaus, in der Tate Britain, wo die über jeden Zweifel erhabenen angelsächsischen Malergrößen Turner, Gainsborough, Hogarth mit ihren Werken residieren, wären solche Schwächen vermutlich nur noch deutlicher geworden.
Tate Modern, London, bis 7. Mai.
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