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Weg mit der Berliner M....straße. Eine Umbenennungsaktion im Jahr 2017.

© imago/IPON

Der Afrodeutsche Anton Wilhelm Amo: Die Ketten der Aufklärung

Anton Wilhelm Amo wurde um 1700 als Kind aus Afrika nach Europa verschleppt. In Halle und Wittenberg absolvierte er eine akademische Laufbahn. Der Kunstverein Braunschweig erinnert an den Sklaven, der ein deutscher Philosoph war.

„Chain, chain, chain …“. Aretha Franklins Stimme tönt aus einer mit Kabeln verschnürten Box. „Chain of Fools“ handelt von Liebe als Sklaverei, aber wenn eine Ikone der schwarzen Musik von Ketten singt, weckt das härtere Assoziationen. Gerade jetzt im Kunstverein Braunschweig. Dort kreist eine Ausstellung um Anton Wilhelm Amo, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der erste schwarze Philosoph, der eine akademische Karriere in Deutschland verfolgte.

Viele Berliner haben den Namen Amo erstmals gehört, als 2017 das Bündnis Decolonize Berlin die Umbenennung der Mohrenstraße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße forderte, drei Jahre bevor Aktivisten den ermordeten George Floyd als Namensgeber für die Straße ins Spiel brachten.

Von Ghana an den Welfenhof verschleppt

Amo wurde als Kleinkind aus dem Hafenort Axim, im Gebiet des heutigen Ghana, verschleppt und kam über Amsterdam an den Hof von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Das Kind dürfte kaum als in Ketten gelegter Sklave, sondern als „Geschenk“ an den Welfenhof gelangt sein.

Die Mächtigen umgaben sich gern mit „Kammermohren“ aus Afrika, wobei unklar ist, ob Amo wirklich als exotischer Page dienen musste. Anton Ulrich ließ das Kind 1707 taufen und zwei neue Namen vor dessen Geburtsnamen Amo setzen: Anton und Wilhelm, nach seinem Sohn und designierten Nachfolger August Wilhelm.

Von den Herrschaften gefördert, wurde Amo eine hervorragende Bildung zuteil. Ab 1727 studierte er an der Universität von Halle Philosophie und Rechtswissenschaften. In einer juristischen Arbeit prangerte er die Sklaverei als illegale Praxis an. Was vermutlich Wirbel auslöste und Amo 1730 an die Universität von Wittenberg wechseln ließ.

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Drei Jahre später verfasste er dort seine Dissertation über die Leib-Seele-Problematik. In den 1740ern kehrte Amo nach Afrika zurück. Warum verließ er das Land, in dem er sozialisiert wurde? Seine Mentoren und Freunde waren gestorben. Vermutlich war Amo nun rassistischen Angriffen ungeschützt ausgesetzt, sodass er resignierte und das Weite suchte.

Die Gruppenschau im Braunschweiger Kunstverein schlägt einen Bogen von afrodeutscher Identität im 18. Jahrhundert zur Gegenwart. 16 Künstlerinnen und Künstler, die zum Teil aus der afrikanischen Diaspora stammen, reflektieren in ihren Werken Amos Denken und seine Biografie. Beides ist lückenhaft überliefert, es existieren keine verbürgten Porträts.

Immanuel Kant schwieg zu Amos Schaffen

Geschichte wird von Gewinnern geschrieben. Die Welfen-Herzöge gehören dazu oder Immanuel Kant, der vielsagend über Amos Schaffen schwieg. Was geschieht aber, wenn das historische Subjekt nicht weiß ist? Wird es dann ignoriert, weil es nicht ins Geschichtsmuster passt? Wie kann die Aufklärung und ihre Devise „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ diejenigen Menschen einschließen, die um Europas Prosperität willen versklavt wurden?

Die Künstlerin Anna Dasovi hat Fragen an die Fenster der Kunstvereins-Villa Salve Hospes geschrieben: „Las eigentlich überhaupt jemand seine Texte, bevor seine Dissertation fast 200 Jahre nach deren Erscheinen im Archiv der Universität von Halle wiederentdeckt wurde?“

Amo stellte sich gegen Descartes

Amo hatte über „Die Apatheia der menschlichen Seele“ promoviert – in Wittenberg, bevor er zwei Jahre später wieder nach Halle zurückkehrte (was den Archivstandort erklärt). Im Gegensatz zum Körper sei die Seele ungreifbar, sie könne keinen Schmerz empfinden: Damit stellt sich Amo gegen Descartes, bei dem die Seele „mit dem Körper vereint ist und mit ihm handeln und leiden kann“.

Amos Denken bewegt sich ganz im Kontext der Frühaufklärung, er mischt sich in die Kontroversen seiner Zeit ein. Er ist ein deutscher Metaphysiker durch und durch. Andererseits wirkt die von ihm postulierte Leib-Seele-Trennung wie ein aus konkreter Leiderfahrung geborenes Konzept. Was der (nicht-weiße) Mensch erdulden muss, kann der Seele nichts anhaben.

Amos Echo. Eine Braunschweiger Ausstellung (r.) reflektiert sein Denken.
Amos Echo. Eine Braunschweiger Ausstellung (r.) reflektiert sein Denken.

© Stefan Stark

Antje Majewski hat Amos Ideen mit anderen Kunstschaffenden diskutiert und deren Gedankenbilder in Gemälde übersetzt: Als blau-gläserne Kugel schwebt die Seele zwischen Landschaft und Himmel, oder eine gemalte Mauer schirmt sie schützend vor der Außenwelt ab.

Brücken schlagen zu einer historischen Figur: Vor allem der Fotoapparat taugt da zur Zeitmaschine. Akinbode Akinbiyi, dessen Städtebilder von Lagos, Chicago oder Berlin bis zum 19. Juli noch im Gropiusbau zu sehen sind, flanierte für den Kunstverein durch Braunschweig. Seine Kamera wurde zu Amos Auge, hielt das fest, was den Philosophen heute fesseln könnte: Der Löwe, das Wahrzeichen Braunschweigs, brüllt von einer Werbetafel. Auf ein Garagentor hat jemand eine schwarze Menschengestalt gepinselt.

[Kunstverein Braunschweig, bis 13. September, Di-So 11-17, Do 11-20 Uhr]

Neben der Marginalisierung Amos in Europa rückt die Schau auch die vom Abendland ignorierten Kulturen Afrikas ins Bewusstsein. Der aus Kamerun stammende Londoner Adjani Okpu-Egbe zeigt im Gartensaal Werke, die sich kritisch mit der Christianisierung des angeblich dunklen Kontinents auseinandersetzt, die zur Auslöschung afrikanischer Zivilisationen mit beitrug.

Neben seinen sarkastisch-bunten, auf Luftpolsterfolie oder Türen gemalten Figurationen zeigt Okpu-Egbe eine Kapelle mit einem Kühlschrank als Schrein darin, in dem ein schwarzer Kopf wie eine koloniale Trophäe aufbewahrt wird.

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Die von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Kunstvereins-Direktorin Jule Hillgärtner und Nele Kaczmarek kuratierte Ausstellung „The Faculty of Sensing" – die (menschliche) Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung, über die Amo nachdachte – im April und Mai wegen Corona geschlossen. Aus der Not wurde eine Tugend gemacht und eine Webversion ins Netz gestellt, die nun mit Bildern, Videos und Texten eine breitere Öffentlichkeit erreicht (kunstvereinbraunschweig.de).

Der Lockdown war noch in Kraft, als George Floyds Ermordung am 25. Mai Protestwellen schlug. Seitdem liest sich die Ausstellung wie ein Kommentar zum heutigen Rassismus, indem sie den kulturellen Reichtum jenseits des weißen Mainstreams unterstreicht.

Es gibt nicht-weiße Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler. Und es sind viele, obwohl People of Color häufig immer noch Hürden nehmen müssen, um an Ressourcen und gute Bildung heranzukommen. „Chain, chain, chain“ hallt es durch das Haus Salve Hospes. Das alte Lied von Hass und Unterdrückung, wann ist es endlich ausgespielt?

Jens Hinrichsen

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