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Geschichtlicher Einschnitt. Nadia Boulanger als erste Dirigentin des Royal Philharmonic Orchestra in der Londoner Queens Hall 1937.

© imago/United Archives International

Die Lehrerin: Gespräche mit der Musikerin Nadia Boulanger

Der französische Filmregisseur Bruno Monsaingeon begegnet der berühmtesten Musikpädagogin des 20. Jahrhunderts.

Von Richard Schroetter

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Hält man sich die Namen ihrer Schüler und Schülerinnen vor Augen, dann muss sie die bedeutendste Musikpädagogin des 20. Jahrhunderts gewesen sein. Bis ins hohe Alter zog sie junge Leute in ihren Bann, angefangen mit Aaron Copland, der bereits 1921 bei ihr am Conservatoire Américain Fontainebleau studierte, bis hin zu Grazyna Bacewicz, Leonard Bernstein oder Philipp Glass. Zur Schar der Begeisterten gehörte auch der französische Geiger, Filmregisseur und Schriftsteller Bruno Monsaingeon. 1977, zwei Jahre vor ihrem Tod, besuchte er Nadia Boulanger in Paris und interviewte sie ausführlich für eine Filmdokumentation. Daraus ist später auch ein Buch entstanden, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt.

Nadia Boulanger entstammte einer alten Musikerfamilie. Als kleines Kind konnte sie jedoch keine Musik ertragen. Sie tat ihr „geradezu weh“, erzählt sie mit sichtlichem Vergnügen. Doch dann kam die große Wende. Die kleine Nadia erkor das verhasste „Ungeheuer Klavier“ auf einmal zu ihrem Lieblingsinstrument. Schon mit zehn geht sie ans Konservatorium, wird Schülerin von Gabriel Fauré und Charles-Marie Widor. Sie will unbedingt Komponistin werden. Schon 1908 gewinnt sie den Rom-Preis, zu ihrem Leidwesen jedoch nur den zweiten. Den ersten Preis, gewinnt einige Jahre darauf Lili, ihre sechs Jahre jüngere, ebenfalls komponierende Schwester – als erste Frau.

Als Komponistin tritt Nadia nach dem Tod ihrer Schwester nicht mehr in Erscheinung, da sie ihre Musik, wie sie bekennt, für „inutile“ hält. Umso erfolgreicher ist sie als Pädagogin. Sie unterrichtet am in Fontainebleau, am Conservatoire Femina musica, an der École Normal de musique und an der Royal Academy of Music, um nur einige von vielen Institutionen zu nennen.  Auch als Dirigentin und Organistin macht sie sich einen Namen, sowie als Werberin für die Alte Musik, besonders für den damals noch unbekannten Claudio Monteverdi, dessen Madrigale sie 1937 aufnimmt. Diese gehören zu den Kulteinspielungen der Schallplattengeschichte. Genauso setzt sie sich für zeitgenössische Komponistinnen und Komponisten ein. Besonders die Werke ihrer verstorbenen Schwester Lili oder diejenigen von Igor Strawinsky liegen ihr am Herzen.

Man hat dem Band am Ende noch ein paar freundschaftliche Worte von prominenten Schülern hinzugefügt, von Leonard Bernstein, Murray Perahia oder Yehudi Menuhin. Das erstaunlichste Freundschaftszeugnis stammt von dem Dichter Paul Valéry. Zu Musik äußerte er sich gewöhnlich nur distanziert, das sei nicht sein Metier.

Eine Ausnahme machte er allerdings mit Nadia Boulanger. „Ich unterhielt mich manchmal mit ihr“, so Valéry. „Wir haben uns, glaube ich, recht gut verstanden. Es gibt eine Philosophie der Gestaltung, die alle Künste beherrscht und es uns gestattet, Ideen auszutauschen, die aus der Praxis kommen – aus der Tätigkeit, nicht dem Vorhaben, aus der Erfahrung, nicht dem Vorsatz. Im Verlauf dieser Unterhaltungen hat mir Mademoiselle Boulanger gelegentlich die Illusion verschafft, ich verstünde etwas von den Subtilitäten und den gelehrten Kombinationen der großen Musik …“

Ähnlich muss es Bruno Monsaingeon ergangen sein, als er Boulangers so lebendig vorgetragenen Erinnerungen folgte. Um es mit ihren eigenen Worten zu sagen: „Ich höre Töne, ich höre immer Töne, ich denke immer in Tönen. Das ist keine besondere Qualität meines Bewusstseins, es ist einfach eine Tatsache. Eine Zeitung lese ich mit größeren Schwierigkeiten als eine Partitur. Die Musik ist das Wesentlichste in meinem Leben geworden, neben vielen anderen wesentlichen Dingen.“

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