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Gabriele Wohmann im Porträt: Die Liebe der Mittelschicht

Gabriele Wohmann beobachtet Menschen und Beziehungen – mit präzisem Röntgenblick. Ein Besuch bei der großen alten Schriftstellerin.

Ein Mann beobachtet seine Frau: „Nicht einmal die Frisur hatte sie geändert, wenn die enge zausige kleine Haarkappe, ein wenig fettig und dunkelbraun auf ihrem derben Apfelschädel, eine Frisur war.“ Mit böser Faszination liest man weiter in der fünften Geschichte von Gabriele Wohmanns neuem Erzählband „Wann kommt die Liebe“ (erschienen im Aufbau Verlag). Der Voyeur ist eines Tages einfach nicht mehr nach Hause gekommen, und nun steht er wohl verborgen hinter der Hecke und betrachtet die Verlassene, ihre „starke, von den Hüften abwärts traglastige Gestalt“, sieht in ihr „vom vielen Draußensein verwittertes Gesicht … ein wenig bitter, aber zufrieden und selbstgerecht“. Alles Schreiben ist eine Frage der Präzision. Haben jene, die Präzision nicht ertragen, Worte wie „frauenfeindlich“ erfunden? Sagen wir es so: Direkt „frauenfreundlich“ klingt Gabriele Wohmann nicht.

Aber was für ein Sog entsteht da. Auch das an dieser Stelle einzuführende Wort der Seniorenfreundlichkeit trifft eher nicht auf sie zu. Zweiter Absatz der elften Geschichte: „Die gute alte Hermine seufzte, und ihr kleines aufgepolstertes Pekinesengesicht, auf dem sich alle Merkmale, die in ein Gesicht gehörten, wie aus Platzmangel zusammendrängten, wurde richtig mürrisch.“ Die Fähigkeit der Verfasserin, für jede Wahrnehmung einen sie ganz erfüllenden Ausdruck zu finden, unterscheidet sie von den meisten Menschen, woraus sich ergibt, dass Sätze wie dieser durchaus steigerungsfähig sind. Dass die Autorin auch ein höchst skeptisches Verhältnis zu Pekinesen unterhält, ahnen wir längst. Darf man wirklich von einem kleinen „vermotteten Hündchen“ sprechen, solange noch Atem in ihm ist? Wer ist diese Frau, deren Seziermesserblick so scharf ins Lebendige schneidet?

Eine ganz junge natürlich, denken all jene, denen ihr Name neu ist. Wer sonst könnte so über das mittelschwer und schwer fortgeschrittene weibliche Alter schreiben? Aber Gabriele Wohmann war schon Mitglied der „Gruppe 47“. Für die Spätgeborenen: Die Ziffer enthält einen Hinweis auf das Jahr der Gründung dieser literarischen Vereinigung, zu der auch Heinrich Böll, Günter Grass oder Ingeborg Bachmann gehörten. Gabriele Wohmann, 78, befindet sich also längst im legendenfähigen Alter, ja in einem Lebensabschnitt, da die Konturen der Dinge in den Köpfen vieler zu verschwimmen beginnen. In ihrem Hirn aber scheint sich das Gegenteil zu ereignen.

Sie geht nicht mehr aus dem Haus, hat Arthrose, Osteoporose und noch mehr -osen, trotzdem scheint ihr Leitsatz zu lauten: Kein falsches Mitgefühl mit Senioren! Sie wird nicht mehr so viel gelesen wie früher, ja, genau genommen wird sie sehr viel weniger gelesen, aber welcher Schriftsteller dürfte aufhören zu schreiben, nur weil seine Leser ihn vergessen, vielleicht weil sie ihm nicht mehr gewachsen sind? Wer die Welt durch Begriffe sieht, die vorzugsweise auf „-feindlich“ enden, taugt nicht zum Wohmann-Leser.

Ein großes rotes Haus unter hohen Bäumen in Darmstadt. Eine schmale, dunkle, dunkel gekleidete Frau. Sehr freundliche Begrüßung, ein fast warmer Blick. Versucht sie, harmlos zu wirken? Aber dann, schon im dritten Satz, geschieht es: „Sie tragen aber einen schönen Rock!“ Das hat noch niemand zu mir gesagt. „Oh, mein Gott!“, ist noch die nachsichtigste Meinungsäußerung, die anderen beim Anblick dieses Kleidungsstücks entfährt. Selbst meiner Mutter im Pflegeheim war es unangenehm, dass jemand ihre Tochter „in diesem Aufzug“ sehen würde. Sollte ausgerechnet Gabriele Wohmann den Rock schön finden?

Natürlich, es war riskant gewesen, so bei ihr zu erscheinen. Ihrem Röntgenblick entgeht nichts. „Ramponiertes Perlhuhn“ ist nach Wohmann-Maßstäben eine vergleichsweise freundliche Beschreibung für das Erscheinungsbild einer Frau. Auch der Mann hinter der Hecke macht sich keineswegs nur Gedanken über die Frisur der Zurückgebliebenen: „Aber für Textilien gab sie Geld aus, sie schwor auf Leinensachen, und sie mussten locker über ihrer Kastenförmigkeit hängen.“

Vor Gabriele Wohmanns Arbeitszimmer steht ein großes altes Puppenhaus. Es ist das Puppenhaus ihrer Darmstädter Kindheit, vollständig eingerichtet; die Puppenfamilie ist anwesend. Andere hätten ein solches Verkehrshindernis längst entsorgt oder dem Vergessen des Kellers anvertraut. Diese Anhänglichkeit an die eigene Frühe ist verräterisch.

Ihr riesiges Arbeitszimmer mit den vielen Fenstern liegt im Halbdunkel, obwohl der Himmel draußen blau ist. Meidet das Licht gar diesen Raum? Gabriele Wohmann mag schlechtes Wetter. Das wirkliche Leben ist ein einziger November; es kommt darauf an, es trotzdem zu lieben. Ist ein Schriftsteller ein Mensch, der weicher und härter zugleich ist als seine Mitmenschen, weicher und härter auch gegen sich selbst?

Sie setzt sich mit dem Rücken zum Blau, zündet sich eine Gitane an – Gabriele Wohmann raucht wie früher Leonid Breschnew genau eine Zigarette pro Stunde – und bestätigt die Vermutung, dass die Frauen und Männer ihrer Bücher keineswegs erfunden sind.

Der Heckenmann zum Beispiel. Die Geschichte war genau in dem Augenblick da, als sie eine Darmstädterin im Vorgarten ihres Hauses sah. Gabriele Wohmann wusste, dass diese Frau unlängst ihren Mann verloren hatte. Und nun schnitt sie schon wieder Rosen und zupfte Unkraut wie immer. Die Autorin schlägt die Hände auf die Knie: „Ich könnte das nicht!“ Viele Frauen, sagt sie, finden so erstaunlich souverän in ihr Leben zurück, auch wenn sie nun allein darin sind. Und dann der Satz: „Ich möchte meinen Mann nicht überleben!“ Wären Schriftsteller also Leute, die nicht nur hartweicher sind als die übrigen, sondern zudem bloß halb so begabt für die Routinen des Lebens? In diesem Augenblick – erst jetzt – begreift man, dass der verbale Heckenschütze gar kein Eheflüchtiger, sondern ein Toter ist. Es ist eine Schwebe-Geschichte, und es ist das Recht eines jeden Erdabgewandten, ein wenig kritisch auf seine Hinterbliebenen zu blicken.

Seit fast 60 Jahren ist Reiner Wohmann, Germanist, mit der gebürtigen Darmstädterin Gabriele Guyot verheiratet, die wie keine andere über die Liebe der Mittelschicht geschrieben hat. Über das, was sich auch in geordneten Verhältnissen niemals ordnen lässt. Dabei ist ihr Ton so beiläufig, kommt so von allen Rändern her wie das Leben selbst. Immer wieder ahnt der Wohmann-Leser, dass die Ehe nur eine besonders raffinierte Form der lebenslänglichen Doppelhaft sein könnte. Wir hören die Schritte ihres Mannes über uns. Und sie sagt, worauf ihr Publikum nicht unbedingt vorbereitet ist: „Je länger es dauert, desto schöner wird es.“ Sie hätte das auch nicht geglaubt.

Die Formel der glücklichen Ehe lautet in ihrem Fall: Sie schreibt, und er macht alles, was sonst noch zu tun ist. Gabriele Wohmanns Haltung zur Sphäre der Alltäglichkeit kennt der aufmerksame Leser aus ihren Büchern. Hausarbeit macht nervös. Natürlich kann sie das viel besser formulieren: Hausarbeit habe „so was Infinitesimales“, denkt in der achten Geschichte von „Wann kommt die Liebe“ eine Frau, die gerade Besuch von einer Freundin hat, die im Selbststudium eine Sozialheilpraktikerinnenausbildung absolvierte, was ihr einen besonders harten Blick der Autorin einträgt.

Gabriele Wohmann liebt ihren Mann. Also macht sie jeden Morgen, was ihr am schwersten fällt: das Frühstück. Es gibt wahlweise Haferflocken mit Banane und Haferflocken mit Schokolade. Die Vorbereitungen beginnen schon am Abend vorher. Vielleicht beobachtet sie mit leiser Skepsis Reiner Wohmann beim Kräuterschneiden. Es macht ihm tatsächlich Freude. So wie ihr das Schreiben. Und die Geschichten kommen zu ihr, noch immer, sie muss nie lange auf sie warten. Erfreulicherweise erscheinen sie fast jedes Mal in beinahe gültiger Gestalt. Ihr Mann sagt dann, was noch weg kann.

Von den Mitgliedern der Gruppe 47 ließ sich die Pfarrerstochter das nie sagen. Was wussten die schon von ihren Geschichten, die in ihrer Art bereits viel moderner waren als das meiste ringsum? Nur in einem hat sie sich immer gefügt. Ihren Mann durfte sie nie mitbringen, als sie Anfang der 60er zu den 47ern kam. Schon gar nicht zu den Festen. Gabriele Wohmann raucht eine neue Gitane und verstummt. Nie würde sie etwas sagen, was ihren Mann verletzen könnte.

Sie besitzt die tiefe Dankbarkeit eines Menschen, der meint, von seinem Nächsten mehr bekommen zu haben, als er selbst geben konnte. Eigentlich möchte sie nicht mal erklären, wie sie als Schulmädchen ganz allein nach Langeoog kam. Wegen eines Darmstädter Orchestermusikers! Sie konnte nicht länger auf dem Festland bleiben, denn dort war er, der Mann, in den sie sich verliebt hatte. Es war ein klarer Fall von Selbstverbannung.

Diese scheinbar so kühle Frau mit dem Hochpräzisionsblick ist tatsächlich eine getarnte Romantikerin. Wüsste sie sonst so viele immer neue Möglichkeiten, die Bewegungsformen eines Hohlmuskels zu beschreiben: Da „sackte ihr Herz irgendwohin ab, polterte wieder rauf, zu hoch, ein lästiges ungesundes Gerumpel, das Marja ebenso beunruhigte, wie Franks Gesichtsausdruck sie ärgerte. Was lächelte er da so in sich gekehrt vor sich hin.“ So beginnt die zweite Erzählung von „Wann kommt die Liebe“.

Marja, Franks Frau, ist rund wie immer; es bleibt ihr nichts, als die Anteilnahme ihres Mannes an den neuen Körperformen der gemeinsamen Freundin Eva leicht zu vergiften: „Aber dieser Frauentypus à la Eva wird auf eine platte flunderhafte Weise schlank. … Sie ist brettartig schlank.“ Die Raffinesse der Frauen, geboren nicht aus Ranküne. Seismographisch begabte Menschen wie Gabriele Wohmann bemerken selbst die kleinsten Bruchlinien unserer Existenz.

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