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Kultur: „Die Neureichen machen mir Angst“

Warum Athen nach den Olympischen Spielen eine andere Stadt sein wird. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Petros Markaris

Er ist die Donna Leon Athens und einer der meist gelesenen Gegenwartsautoren Griechenlands. Petros Markaris’ Krimis werden in viele Sprachen übersetzt und verfilmt. Er schreibt Theaterstücke und arbeitet als Übersetzer. Zuletzt übertrug er Goethes „Faust“ ins Griechische. Für den Tagesspiegel wird er die Olympischen Spiele mit einer regelmäßigen Kolumne begleiten. Unser Autor traf ihn in seiner Dachwohnung mitten im staubigen Zentrum von Athen.

Herr Markaris, es heißt, Paris sei eine Frau. Was ist Athen?

Eine Megäre.

Eine unterirdische Rachegöttin, die die Seelen der Toten quält? Das klingt nicht sehr charmant.

Naja, es gibt Teile dieser Stadt, die ich sehr mag, aber es gibt auch genug, was mich an Athen empört.

Was mögen Sie an Athen?

Ich bin ein Zentrumsmensch, ich lebe immer im Zentrum, ich liebe das Zentrum. Gerade diese Gegend – ich denke an Straßen wie die Evripidou und die Sofokleous – behielt etwas von ihrem ursprünglichen Charakter. Hier, bei den Händlern und in den Tavernen, riecht es mehr nach Orient als nach Europa. Und das finde ich spannend, was natürlich auch mit meiner Herkunft zu tun hat.

Sie sind in Istanbul aufgewachsen, dann lebten Sie in Wien. Erst 1965 kamen Sie nach Athen. Wie empfanden Sie die Stadt damals?

Athen war eine ruhige Provinzstadt, die Menschen grüßten sich gegenseitig, kamen schnell ins Gespräch. Es gab ganz traditionelle Viertel mit Lebensmittelläden, die sich abends in Tavernen verwandelten und Essen servierten. Athen hatte ein fröhliches, lächelndes Gesicht.

Und heute?

Heute ist Athen eine Metropole mit fünfeinhalb Millionen Einwohnern. Eine europäische Großstadt mit viel mehr Lärm, viel mehr Durcheinander. Im Zentrum, rund um die Athinas, findet man viele asiatische Lebensmittel- und Bekleidungsläden, die es früher nicht gab. Aber die orientalische Seite Athens ist verschwunden.

Vermissen Sie den Orient?

Teilweise ja. Vielleicht in dem Sinne wie Pier Paolo Pasolini bedauerte, dass die Eidechsen Rom verlassen hatten. Athen war zwar ein Provinznest, aber eine schöne, fröhliche Stadt. Das ging verloren.

Griechenland war damals sehr arm…

… bis nach 1981 die EU-Gelder zu fließen begannen. Man ist sehr verschwenderisch mit diesen Mitteln umgegangen, nicht nur aus egoistischen Gründen. Wir Griechen haben nicht diese Tradition des Investierens. Ein Grieche will sein Geld nicht in eine Firma stecken, er baut sich lieber eine Villa. Ich bin pessimistisch. Viel ausgeben, wenig investieren – irgendwann wird das zu Ende sein.

Die Olympischen Spiele, die nächste Woche in Athen beginnen, brachten noch einmal viel Geld ins Land.

Aber im September sind sie vorbei. Das ist für mich der erste große Test. Was wird, wenn wir die Spiele hinter uns haben? Es wird keine Arbeit geben, kein Geld. Manche Gebäude sind noch nicht fertig. Niemand wird sie bezahlen können.

Das sagen viele, aber Sie als Grieche…

Ich bin Armenier vom Vater, Grieche von der Mutter, war jahrelang türkischer Staatsbürger, habe Deutsch studiert und schreibe Griechisch. Ich habe ein ironisches Verhältnis zu nationalen Gefühlen. Außerdem bin ich nicht in Athen geboren. Ich kann mir den Luxus leisten, die Stadt ohne Sentimentalitäten zu betrachten.

Ihre Romane spielen in den unterschiedlichsten Milieus dieser Stadt. Woher kennen Sie die?

Ich treffe mich eben nicht nur mit Schriftstellerkollegen. Es ist mir einfach zu langweilig, am Tage an einem Roman zu arbeiten und abends wieder über Romane zu reden. Also verabrede ich mich mit Ärzten, Unternehmern, Leuten aus dem Staatsapparat, und dann rede ich mit denen. Dazu lese ich täglich mehrere Zeitungen, nicht nur griechische.

Ihr letzter Roman „Live!“ spielt vor dem Hintergrund illegaler, oder sagen wir besser halb legaler Balkan-Geschäfte. Wie haben Sie dazu recherchiert?

Wenn mich ein Thema juckt, finde ich schon den Richtigen, der mir einiges erklärt, Türen öffnet. Ich weiß, dass EU-Gelder, die dazu bestimmt sind, die Balkanländer auf den EU–Beitritt vorzubereiten, den Griechen zugute kommen. Und wie das geschieht, habe ich in „Live!“ beschrieben.

Das emotionale Herzstück Ihrer Geschichten ist immer eine Familiengeschichte.

Eine Tragödie. Das liegt an der griechischen Tradition. Die Atriden, die Odyssee, Ödipus – all das sind Familientragödien. Ich versuche, das für unsere Zeit fortzusetzen.

Aber die griechische Familie von heute ist nicht mehr die Familie der Ilias, es ist wahrscheinlich auch nicht mehr die Familie von 1960. Was hat sich verändert?

Pauschal gesprochen kann man sagen: Uns hat alles gefehlt, die jungen Leute von heute haben alles. Sie tragen Anzüge von Armani und Gucci. Meine Schwägerin hat zwei Söhne. Der Ältere studiert im zweiten Semester Physik, der Jüngere ist in der dritten Klasse der Mittelschule. Der Jüngere besteht darauf, immer ganz toll angezogen in die Schule zu gehen. „Warum machst du das?“, fragte ich ihn. – „Na, alle gehen so, soll ich denn ärmlicher aussehen als die anderen?“ Die neue Generation lebt üppig, und das ist nicht gut. Es ist schwer zu sagen, wie diese jungen Leute reagieren, wenn sie einmal in materielle Schwierigkeiten kommen.

In den 60er Jahren trieb die Armut viele Griechen ins Ausland. In Ihrem frühen Theaterstück „Fremdgeblieben“ geht es darum.

Viele gingen als Gastarbeiter nach Deutschland. Dort lernten sie viel. Als sie dann in den 70er, 80er Jahren zurückkehrten und hier Tavernen, Hotels eröffneten, konnten sie oft nur noch wenig mit ihren Landsleuten anfangen. Sie hatten sich total verändert. Trotzdem wollten die Griechen unbedingt zurückkehren, dafür hatten sie all die Jahre gespart.

Heute arbeiten Albaner, Serben, Bulgaren und Rumänen in Athen wie die Griechen in den 60er Jahren in Deutschland.

Da gibt es große Parallelen, aber auch große Unterschiede. Die Rumänen, Bulgaren, Serben wollen hier so viel Geld verdienen, damit sie später in ihrem Land gut leben können. Die Griechen sind den Albanern feindlich gesinnt. Sie sind für immer gekommen. Das hat damit zu tun, dass die Menschen in Athen große Angst um ihre Arbeitsplätze haben, aber auch mit der neuen europäischen Arroganz der Griechen.

Ihr Verhältnis zu dem Beitrittskandidaten Türkei ist auch nicht gerade entspannt.

Das ist fast schon Tradition. In der Zypernfrage beschuldigen die Türken die Griechen, die Griechen die Türken. Es geht nicht voran. Ich habe den türkischen Nationalismus in den 50er Jahren erlebt, die Griechen in Istanbul litten ständig unter Angst vor Pogromen. Aber keiner von beiden trägt die alleinige Schuld. Mit Griechen und Türken ist es wie bei den Palästinensern und Juden.

Sie selbst haben vor wenigen Jahren, im Dezember 2000, eine Reise in die umgekehrte Richtung gemacht und Ihr Elternhaus in Istanbul noch einmal besucht.

Ich war auch vorher schon oft wieder in Istanbul. Zu dieser Stadt habe ich eine viel emotionalere Bindung als zu Athen. Ich bin dort aufgewachsen, kenne jeden Pflasterstein, brachte aber nie den Mut auf, mein Elternhaus zu besuchen. Als mein erster Roman ins Türkische übersetzt wurde, kam eine für das türkische Fernsehen arbeitende Journalistin zu mir, sie war Jüdin, keine Türkin und wollte mit mir mein Elternhaus besuchen. Ich sagte ihr ab, aber sie ließ nicht locker, versprach mir, dass, sobald ich weinen würde, nicht gedreht wird. Schließlich fuhren wir hin, und als ich um die Ecke bog, fielen mir die Tränen aus den Augen. Sie hörte auf zu drehen, wartete etwa eine halbe Stunde, bis es vorbei war. Seitdem ist es für mich kein Problem mehr. Einmal weint man, dann geht’s.

Sie haben einmal gesagt, der EU-Beitritt habe viele Griechen zu Neureichen gemacht.

Diese Mentalität macht mir Angst. Nehmen Sie den Stadtteil Kifisia. Er hat keinen persönlichen Charakter mehr. Kifisia kann man in München, in Berlin, in Rom, in Paris oder in Madrid finden. Die gleichen Luxusgeschäfte, die gleichen Modeläden und die gleichen Leute auf der Straße, die einkaufen.

Mit dem Unterschied, dass in München, Berlin oder Rom das Stadtzentrum in den letzten Jahren aufgewertet wurde. Die Situation in Athen erinnert an das Sterben der deutschen Innenstädte in den 70er Jahren.

Athen breitet sich aus. Es gab schon immer eine Bewegung weg vom Zentrum. Diese hat sich in den letzten Jahren durch die Olympiade noch verstärkt. Heute geht ein Schnitt durch die Innenstadt. Nur die ehemaligen Mittelstandsviertel behielten ihren Charakter. Die kleinbürgerlichen Quartiere hat man den Emigranten überlassen. In den Schulen dort sind um die 60 Prozent der Kinder keine Muttersprachler mehr. Immer mehr Griechen wohnen nun in schicken Außenbezirken wie Kifisia.

Oder in Küstenorten wie Vouliagmen und Porto Rafti.

Vor vielen Jahren habe ich in Porto Rafti gelegentlich den Sommer verbracht. Ich konnte miterleben, wie der Vorort wuchs und wuchs. Heute bauen dort die Neureichen ihre Villen. Im Unterschied zum schicken Kifisia gibt es in Porto Rafti nicht einmal eine Tradition. Kifisia entstand in den frühen Jahren des Königreiches. Die bayrischen Könige hatten hier ihre Sommerresidenz. Das Großbürgertum zog in seine Nähe. Kifisia hat wenigsten noch ein gewachsenes Ambiente, Vororte wie Porto Rafti sind neureich und sonst gar nichts.

Griechenland war bis 1974 eine Militärdiktatur. Gibt es in Athen überhaupt noch bürgerliche Traditionen?

Die großen gesellschaftlichen Hoffnungen nach dem Ende der Obristendiktatur haben sich nicht realisiert, aber es hat positive Schritte gegeben. Merkwürdigerweise lernten die Parteien der Mitte mehr als die Linke. Nach der Junta ist 1974 ja der Onkel gekommen…

…Konstantinos Karamanlis, der Onkel des jetzigen Ministerpräsidenten Kostas Karamanlis…

…und hat eine funktionierende Demokratie aufgebaut, die auf einer sehr liberalen Verfassung fußt. Dieser Prozess ist von der linken Pasok-Bewegung fortgesetzt worden.

Pasok wurde 1981 mit großer Mehrheit an die Macht gewählt. Die Bewegung schien von einem großen linken Konsens getragen.

Wenn man in Griechenland von der Linken spricht, meint man linke Generationen. Die erste wurde 1940 von der Metaxas-Diktatur deportiert und vollkommen aus dem Spiel gebracht. Nach der deutschen Okkupation und dem Bürgerkrieg gab es die „Generation der Niederlage“, so nennt man sie hier. Erst wurde sie unter der Besatzung dezimiert, dann verlor sie den Bürgerkrieg, musste in die Emigration gehen in die Sowjetunion, nach Jugoslawien, in die Tschechoslowakei, in die DDR. Die dritte linke Generation, die nach dem Polytechnion benannt wird…

…wo Anfang der 70er Jahre die Studentenrevolte begann…

…ist die einzig siegreiche. Und sie hat enorm davon profitiert. 1981 wählten viele Pasok, weil sie sagten, einmal muss dieses Land auch eine Linksregierung haben.

Pasok war also eine späte Folge der Studentenrevolte?

Wenn man so will. Nur war diese Partei keine richtige Linkspartei, nicht einmal eine sozialdemokratische. Pasok war aufgebaut wie die Baath-Partei in Syrien und im Irak. Ganz streng nach dem Muster, wer zu uns gehört, hat was davon, wer nicht zu uns gehört, hat nichts davon. Die Pasok-Leute machten sich nicht daran, die Gesellschaft zu verändern. Sie haben ein paralleles Großbürgertum geschaffen. Das alte traditionelle Großbürgertum, das sich seit den Zeiten des Bayernkönigs Otto entwickelt hatte, verschwand und ein neureiches entstand vor allem aus Mitgliedern von Pasok. Diese Menschen benutzten ihre linke Einstellung als Kreditkarte.

Prägt diese linke Bourgeoisie das Stadtbild von Athen?

Das Stadtbild nicht, aber die Stadtverwaltung. Das schicke Kifisia beispielsweise hat heute einen kommunistischen Bürgermeister. So entledigen sich die linken Neureichen ihrer Schuldgefühle, aber es ist egal, was sie wählen, gesellschaftlich. Was die sozialen Schichten betrifft, ändert sich dadurch nichts.

Achim Engelberg

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