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 Initiationserlebnis. Aby Warburg 1896 bei den Navajo in Arizona.

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Bernhard Schlink über Horst Bredekamps neues Buch: Die Schöpfung der Schlange

„Aby Warburg, der Indianer“: Horst Bredekamp wirft in seinem neuen Buch einen Blick auf den berühmten Kulturforscher und das Feld der Völkerkunde.

Wer Aby Warburg nicht kennt, könnte ihn nicht schöner kennenlernen als in Horst Bredekamps neuem Buch. Es gilt einem Schlüsselerlebnis des Kunst- und Kulturhistorikers, der von 1866 bis 1929 lebte, in Hamburg wirkte, die Ikonografie als Methode und eine Bibliothek als ihr Instrument begründete und das Nachwirken der Antike, ihrer Götter, Bilder und Praktiken in der europäischen Kultur und zumal der italienischen und deutschen Renaissance, zum kunst- und kulturwissenschaftlichen Forschungsthema machte.

Das Schlüsselerlebnis war eine Reise zu den Pueblo-Indianern im Südwesten Nordamerikas mit Aufenthalten in Acoma, Walpi und Oraibi von Dezember 1895 bis Mai 1896. Warburg sah die Bauten und Ruinen, Rituale und Tänze, Vasen und Schalen der Indianer und ließ sie Zeichnungen anfertigen. Ihre Siedlungstechniken erinnerten ihn an Siedlungstechniken der Antike, ihre Tanzrituale an Dionysisches, und beides lud dazu ein, Symbolik transkulturell zu begreifen. In ihren Ornamenten und Zeichnungen spielten Abstraktion und Nachahmung zusammen und lag Material für die Frage nach dem Ornament als Grundelement der Kunst.

Dass die Begegnung ein Schlüsselerlebnis war, wurde lange nicht gesehen. Erst die Ausgabe von Warburgs Gesammelten Schriften hat die Fragmente, Bilder und Briefe zugänglich gemacht, die Warburgs anschließende intensive Beschäftigung mit der Völkerkunde dokumentieren. Im August 1896 zog Warburg nach Berlin, um die ethnologischen Kenntnisse zu erwerben, die er brauchte, um seine indianischen Erfahrungen in seine kunsthistorischen Überlegungen einzuschließen. Das Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin hatte die größten ethnologischen Bestände weltweit, gesammelt in dem Wunsch, die kulturellen Schätze der Menschheit zusammenzutragen, ehe die Industrialisierung und Kolonialisierung der Welt sie zerstörten.

Sein Direktor Philipp Wilhelm Adolf Bastian verfolgte dabei das Konzept, nicht nur die Spitzenwerke, unter denen der Kunsthistoriker Carl Einstein wenig später die afrikanischen Skulpturen den Werken der Renaissance gleichsetzte, sondern vor allem die Artefakte des täglichen Lebens zu sammeln, um die Psychologien und Leistungen der Völker sichtbar zu machen. Es galt im Sinne Johann Gottfried Herders, der Brüder Humboldt und Franz Boas’, die Völker und Kulturen aus sich heraus zu verstehen, nicht nach einem evolutionären Schema, nicht in einer wertenden Hierarchie.

Von der Renaissance nach New Mexico

Während seiner Reise war auch Warburg das historische Aufstiegsdenken fragwürdig geworden. Vor seiner Abreise hatten ihn die Prozessionen, Maskeraden und Tierkämpfe eines Florentiner Hochzeitsfests 1589 beeindruckt, die Geschichte, Mythos, Kunst und Leben zu versöhnen suchten. Die Prozessionen, Maskeraden und Tierrituale der Indianer zielten nicht minder auf metaphysische Versöhnung und legten einen Ansatz nahe, der zwar historische Entwicklung anerkennt, aber mehr noch scheinbar vergangene Kulturformen wiederkehren sieht. Warburg gelangte zu einem Verständnis des Symbols als an das Materielle, Greifbare und ebenso an die Sphäre des Begriffs gebunden, das ihm für die Wesensbestimmung des Primitiven wie des Modernen zentral wurde. Im Symbol spannen Menschen ihr Potential zwischen Magie und Ratio auf, nicht auf höherer oder tieferer Stufe, sondern immer wieder neu. 1923 setzte Warburg über einen Vortrag, der von der fortwährenden Zeitgenossenschaft indigener und europäischer Kultur handelte, das an Goethe angelehnte Motto „Es ist ein altes Buch zu blättern, Athen, Oraibi – alles Vettern“.

Warburgs besondere Aufmerksamkeit und vielleicht auch Zuneigung galt den Hopi. In ihrem Schlangentanz sah er den Gegensatz der tötenden Schlangen des Laokoon und der heilenden des Asklepios überwunden, die zerstörerischen Kräfte der Natur und die mörderischen Potenzen des Menschen in einen Symbolraum und „Denkraum der Besonnenheit“ überführt und die Gemeinschaft auf Konfliktlösung gestimmt. Die Bändigung der Gewalt durch symbolische Distanzierung – Bredekamp zeigt, wie viel dieses Lebensziel von Warburgs Bemühungen um eine universale Psychologie und eine transkulturelle Bildtheorie seiner Beschäftigung mit den Indianern verdankte. Die Beschäftigung endete denn auch erst 1929 mit seinem Tod.

Indem Bredekamps Buch in der Beschäftigung Warburgs mit den Berliner völkerkundlichen Sammlungen eine bisher unbekannte Dimension seines Schaffens erschließt, weitet es den Horizont, den Warburg der kunst- und kulturwissenschaftlichen Forschung eröffnet hat. Die Vetternschaft zwischen Antike und italienischer und deutscher Renaissance weitet sich zur Vetternschaft mit den indigenen Kulturen. Aber die Bedeutung des Buchs geht weiter.

Es korrigiert die neuerliche Vorstellung, völkerkundliche Sammlungen stünden zwangsläufig unter einem kolonialen Vorzeichen. Seit dem 16. Jahrhundert wurden im Berliner Schloss Gegenstände aus Wissbegierde und Wertschätzung fremder Völker und Kulturen zusammengetragen. Nachdem sie von Napoleon nach Paris überführt und nicht mehr zurückgebracht worden waren, wurde erneut eine völkerkundliche Sammlung aufgebaut, nicht mit dem Gestus aneignender Dominanz, sondern in der Erwartung, mit der Kenntnis fremder Kulturen das Zusammenspiel aller Kulturen und auch die eigene Kultur besser zu verstehen. Als das Deutsche Reich schließlich Kolonien hatte und den kolonialen Anspruch in den völkerkundlichen Museen dargestellt haben wollte, verweigerten diese sich, und es musste eigens ein Kolonial-Museum gegründet werden.

Gegenwart, die sich der Vergangenheit bemächtigt

Indem Bredekamp Warburg bei seinen Bemühungen begleitet, indianische Artefakte zu erwerben und erwerben zu lassen, gibt er auch einen Einblick in das Entstehen völkerkundlicher Sammlungen. Warburg kaufte und ließ kaufen und erfuhr, dass die Indianer den Handel aktiv betrieben und die Preise scharf verhandelten. Das Alter der Artefakte reichte bis in die Gegenwart; ob manche, wie dies für afrikanische Bildwerke gilt, überhaupt für den internationalen Markt hergestellt wurden, bleibt offen.

Wir leben in einer Gegenwart, die sich der Vergangenheit bemächtigt. Die Beurteilung nach heutigen moralischen Maßstäben, die in der Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit eingeübt wurde und auch ihr Recht hatte, weil die moralischen Maßstäbe unserer Väter und Mütter zugleich gestrig und heutig waren, wird auch bei ferner und ferner liegenden Vergangenheiten geübt. Die koloniale europäische Vergangenheit wird beurteilt, als finde sie heute statt, und weil Kolonialismus heute insgesamt und rundum unmoralisch wäre, soll auch alles, was in der kolonialen europäischen Vergangenheit geschah, unmoralisch sein, nicht nur die Überwältigung indigener Völker und Kulturen, sondern auch die völkerkundliche Beschäftigung mit ihnen, nicht nur ihre Ausbeutung, sondern auch der Austausch mit ihnen, nicht nur der Raub, sondern auch der Erwerb ihrer Artefakte. In den schlichten Argumenten der Forderung nach Restitution wird diese schlichte Wahrnehmung der kolonialen europäischen Vergangenheit politisch zugespitzt.

Davon handelt Bredekamps Buch (Wagenbach Verlag, 2019, 176 Seiten, 18 Euro) nur zwischen den Zeilen. Es berichtet, wie es war, wie Warburg zur Völkerkunde kam, was Völkerkunde war, wie es um die völkerkundlichen Sammlungen stand, mit welchem Respekt für indigene Völker und Kulturen völkerkundliche Forschung betrieben wurde und welchen Gewinn Warburg für die Kunst- und Kulturgeschichte daraus zog. Es bedarf keiner Polemik; der Bericht, wie es war, genügt, die Vergangenheit aus dem Gefängnis ihrer schlichten Wahrnehmung zu befreien.

Bernhard Schlink

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