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„Coma“ bei Encounters auf der Berlinale: Die Welt aus den Fugen
Von der Eisschmelze bis zur Pandemie. Mit „Coma“ richtet Bertrand Bonello einen Brief an die Tochter und an eine aus der Bahn geworfene Jugend.
Stand:
Apokalyptische Wettervorhersagen, ein Würfel mit blinkenden Farbfeldern, der den freien Willen als Illusion entlarvt, neue Weisheiten zu Jeff Bezos und Michael Jackson und ein Küchengerät namens „Crudimix“: Auf einen Teenager voller Unsicherheiten und Ängste kann die orakelhafte Patricia Coma (Julia Faure) kaum beruhigende Wirkung entfalten.
Andererseits ist sie mit ihren irritierenden Botschaften und absurden Gadgets die Influencerin der Stunde, ein Spiegel der eigenen Fragen und Zweifel. Die Welt ist aus den Fugen. Von Menschen gemachte Katastrophen wie Waldbrände, Eisschmelze, Unwetter und die gegenwärtige Pandemie lassen in eine dunkle Zukunft blicken. Und seit das Virus das Leben noch mehr in die digitale Welt verschoben hat, scheint die Wirklichkeit erst recht zu entgleiten.
[13.2., 9.30 Uhr (Cinemaxs 8), 13.2., 15 Uhr (Cubix 7), 16.2., 9.30 Uhr (Cinemaxx 7), 17.2., 21 Uhr (Cinemaxx 6/7), 19.2., 12 Uhr (Akdakemie der Künste)]
Geschlossene Systeme als entrückte Gegenwelten: Auf dieser Idee sind Bertrand Bonellos Filme gebaut. Das Bordell in „L’Appolonide“, das Mädcheninternat in „Zombie Child“, ein Luxuskaufhaus, in das sich in „Nocturama“ eine Gruppe jugendlicher Terroristen nach ihren Anschlägen zurückzieht. In „Coma“ ist es das Zimmer eines achtzehnjährigen Mädchens während des Lockdowns oder vielmehr: ihre Psyche. Der namenlose Teenager (Louise Labeque) könnte die Tochter des Filmemachers sein. Bonello rahmt den Film als Brief an seine Tochter Anna – anfangs zu grisseligen, bis zur Unkenntlichkeit vergrößerten Bildern, am Ende zu monumentalen Dokumenten der Klimakatastrophe. Aus den väterlichen Worten sprechen Angst, Liebe, Sorge und Trost, der Tonfall ist von einem aufrichtigen Pathos getragen. Es geht ja aber auch um viel.
Das Ende einer losen Trilogie
„Coma“, der dritte und letzte Teil einer losen Trilogie über die Jugend, entwirft den Erzählraum als Reich zwischen Traum und Wirklichkeit, „Limbo“ lautet das Schlüsselwort, das magnetisch andere Begriffe – Osmose, Mise en abyme – anzieht. Ein Zwischenreich ist auch die materielle Realität des Films. Essay und Videobrief vermischen sich mit Elementen aus Horrorkino, Mystery, Soap und Sitcom, auch das visuelle Material ist hybride. Animationen, Stop-Motion-Szenen mit Barbie-Puppen und POV-Camcorderaufnahmen wechseln sich mit Bildern von Überwachungskameras, Chats und Zoom-Konferenzen. Die Protagonistin und ihre Freundinnen gehen dabei etwa der Frage nach, ob Jeffrey Dahmer der coolste Serienmörder ist oder doch eher einer der vielen namenlosen Psychopathen.
Anders als Konsumtempel und Bildungsanstalten lassen sich mentale Räume nicht einhegen. Die Gedanken wuchern und driften, ernährt durch immer neuen, teils beunruhigenden Online-Content. „Coma“ ist jedoch weniger eine realistische Repräsentation einer Digital Native und ihrer virtuellen sozialen Sphären, als eine durch und durch cinematische Realität, die an taktile Erfahrungen gebunden ist.
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Statt eine authenthische Online-Welt nachzuahmen baut Bonello experimentell verspielte Fiktionen - zuweilen mit fast schon anachronistisch anmutenden Mitteln. Durch die Plastikkörper von Barbie und Ken wandern Aussagen von Serienkillern und der Twitter-Nonsense von Donald Trump. Meistens aber agieren sie in ihrem liebevoll ausgestatteten Puppenhaus abgedroschene Beziehungsdramen aus.
Der eigentliche „Influencer“ des Films ist Gilles Deleuze. Bonello hat sich von einer auf Youtube zirkulierenden Rede inspirieren lassen, die der französische Philosoph 1987 an der Pariser Filmhochschule La Fémis hielt. „Hüten Sie sich vor den Träumen anderer, denn wenn Sie in ihrem Traum gefangen sind, sind Sie erledigt“, so Deleuze.
Bonellos „Coma“ hütet sich nicht, begibt sich vielmehr mitten hinein in die Träume, mit der tiefen Überzeugung, dass Anna – die Jugend, die Generation der Post-Millenials – aus dem Limbo mit neuer Kraft wieder auftaucht. „Auch wenn der Winter lang und streng ist, kehrt der Frühling immer wieder zurück.“
Esther Buss
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