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Das ist der Hammer. Jessy (Josephin Busch) und Udo (Serkan Kaya) in Thomas Brussigs Revue, inszeniert von Ulrich Waller.

© Brinkhoff/Mögenburg

Lindenbergs Operation Lederhose: Die Wende als Politrevue

Hut ab: Das Udo-Lindenberg-Musical "Hinterm Horizont" im Theater am Potsdamer Platz. Ein Märchen, keine Frage. Aber eines, das der Wirklichkeit entstammen soll.

Wenn es um Liebe geht, kann im Musiktheater das Glühen, Beben und Schmachten gar nicht groß genug sein. Eng aneinanderschmiegt beginnen der Mann und das Mädchen ein Duett: „Wenn du mich so ansiehst / Fällt mir nichts mehr ein / Wenn du willst, dann nimm mich / Es kann für immer sein.“ Noch zärtlicher wird ihre Umarmung, die Streicherakkorde schwellen an: „Nur zu dir fallen mir solche schönen Träume ein / Ich will jede Sekunde nur noch mit dir zusammen sein.“ Glück im Sekundentakt, vielleicht für immer. Oh, Baby, Baby. Ein Monument der Zusammengehörigkeit. Aber warum müssen die beiden Darsteller, während sie so inbrünstig singen, auf der Krempe eines gigantischen schwarzen Huts stehen?

Der Hut, der von einem kleinen Revolutionsstern geziert wird, ist das Großsymbol des Musicals „Hinterm Horizont“ im Theater am Potsdamer Platz. Er steht für den Mann, um den es geht, den bekanntesten Hutträger der Republik: Udo Lindenberg. Manchmal ist der Hut ein Fahrstuhl, auf dem die Protagonisten des Stücks zu ihrem Auftritt herabschweben, manchmal wird auf dem Hut geklettert, geküsst und gekämpft, doch meistens hängt der Hut einfach nur am Bühnenhimmel, ein wenig unheilvoll wie eine Drohung, jederzeit alles unter sich begraben zu können. Die Szene, in der die Helden „Bis ans Ende der Welt“ singen, endet im Getümmel. Sie wird auf der Hutkrempe von Stasi-Männern nach rechts weggerissen, er von seinen Fans nach links hinfortgetragen.

Lindenberg, stell dir vor, hat 1983 bei seinem Konzert im Palast der Republik das „Mädchen aus Ostberlin“ kennengelernt und findet sie „sehr bedeutend“. Beide wollen „einfach nur zusammen sein“. Aber in einem Land, durch das sich Mauer und Todesstreifen ziehen, ist das utopisch. Der Star und das Mädchen stehen allein gegen eine Welt der Bürokraten, Kalten Krieger und „Steiftiere“ (Lindenberg). Ihre Liebe ist, wie bei Romeo und Julia, zum Scheitern verurteilt.

Der Star und das Mädchen wollen "einfach nur zusammen sein"

Ein Märchen, keine Frage. Aber eines, das der Wirklichkeit entstammen soll. Nur dass das Mädchen nicht wie im Stück Jessy, sondern Manuela hieß, und Lindenberg sie bereits in den siebziger Jahren getroffen haben will. Die Auskünfte, die der Sänger in Interviews gibt, ähneln Orakelsprüchen. Was in seinem unter Hut und Sonnenbrille verborgenen Künstlerhaupt tatsächlich vor sich geht, lässt sich allenfalls erahnen. Aber im Bühnenbild des Theaters am Potsdamer Platz bekommt die Kopfbedeckung noch eine andere Bedeutung: Sie ist ein Zauberhut. Denn Regisseur Ulrich Waller und Autor Thomas Brussig gelingt es, aus dem kruden, buchstäblich zusammengereimten Stoff eine mitreißende Politrevue über die deutsche Wiedervereinigung zu machen. Wie dabei Slapstick und Drama, Angst und Action ineinander übergehen, das ist ein kleines Wunder.

Am Anfang macht sich eine Reporterin (Nadja Petri) auf die Suche nach dem Mädchen aus Ostberlin und stöbert sie (Jessy als ältere Frau: Anika Mauer) in einer Kleinbürgerwohnung auf. Dann klappt das Bühnenbild um, die Handlung springt zurück in den Oktober 1983. Beim Festival für den Frieden intoniert Jessy (als Mädchen: Josephin Busch) im FDJ-Blauhemd mit Genossinnen „Vom Frieden singen unsere Lieder“, Udo Lindenberg (Serkan Kaya) und seine Band spielen die apokalyptische Rumpelrocknummer „Odyssee“. Die Stasi ist bei dem historischen Konzert im Palast der Republik natürlich dabei, Männer mit Lederhüten, Trenchcoats und Handgelenktaschen filmen mit und versuchen, die Begeisterung des Publikums zu ignorieren: „Das ist zurückhaltender Applaus, maximal.“ Udo, hingerissen, spricht Jessy an: „Hey, bezaubernde Nachtigall.“ Leider schafft Hauptdarsteller Kaya es nicht, Lindenbergs lässiges Genuschel adäquat nachzuahmen, auch sein torkelndes Tänzeln hat er nicht drauf. Und Kayas Musicalstimme ist viel zu schön für das Rockorgan des Panikpräsidenten.

Die Stadi möchte Lindenberg ausschalten und sucht ein Double

Die Liebesgeschichte hangelt sich an Lindenberg-Songs entlang, von „Alles das bist du für mich“ bis zu „Ich lieb dich überhaupt nicht mehr“. Aber nur angespielt wird der „Sonderzug nach Pankow“, mit dem das „Jodeltalent“ einst bei Honecker vorstellig geworden war: „Och, Erich ey, bist du denn wirklich so ein sturer Schrat / Warum lässt du mich nicht singen im Arbeiter- und Bauernstaat?“ Tollkühne Rasanz entwickelt „Hinterm Horizont“ bei der Darstellung der DDR aus der Innenperspektive.

Die Szenen, in denen uniformierte Stasi-Chargen die „Operation Lederhose“ planen und in einer Art „DDR sucht den Superspion“-Casting nach einem Lindenberg-Double fahnden, sind reinstes Kabarett. Der Genosse Minister, von Rainer Brandt herausragend gespielt, fasst die Kenntnisse über den Sänger trefflich zusammen: „Genossen, was kann der eigentlich? Nichts – und im Nichtstun, Genossen, lassen wir uns von keinem überbieten.“

Man spürt den Brussig-Sound in solchen Sätzen. Im Film „Sonnenallee“, für den der Schriftsteller das Drehbuch schrieb, hatte eine DDR-Familie in einem klaustrophobischen Wohnzimmer einen Mu-Fu-Ti vorgeführt, einen Multifunktionstisch. Ähnlich geht es nun in „Hinterm Horizont“ zu, wo sich Jessys Familie auf einem plastebezogenen Sofa versammelt und über Staatsräson und Rock ’n’ Roll streitet. Als der in den Westen abgehauene Sohn anruft, ermahnt ihn die Mutter: „Halt dich fern von den Drogen und bei Aids, da machst du nicht mit.“

Es fällt auch der Seufzer „Manchmal glaube ich, hier ist sogar der Himmel kleiner als anderswo“. Die Zeitgeschichte läuft die ganze Zeit mit, in Form von Filmprojektionen. Das Publikum ist gerührt, als die Mauer fällt. Und für Hanns Joachim Friedrichs, der in den „Tagesthemen“ verkündet: „Dies ist ein historischer Tag“, gibt es Szenenapplaus.

In Moskau, wo Udo und Jessy sich wiedertreffen, tanzen – tolle Choreografie – Touristen, Kosaken, Rotarmisten, Primaballerinen und Olga von der Wolga gemeinsam auf dem Roten Platz. Das Mädchen und der Sänger sind „einfach unschlagbar / Ein Paar wie Blitz und Donner“. Ein Hotel wird zum Liebesnest, neun Monate später kommt Sohn Steve zur Welt. Die Stasi drangsaliert die Mutter und macht sie zur IM „Regenwurm“. Udo und Steve wissen nichts voneinander, zur finalen Konfrontation kommt es erst im Hamburger Hotel Atlantic der Jetztzeit. Bei der Premiere springt der echte Udo Lindenberg nach drei Stunden zum Schlussapplaus auf die Bühne, verteilt Eierliköre, tanzt zappelnd und singt „Candy Jane“. Hut ab.

Theater am Potsdamer Platz, Mo, Mi, Do 19 Uhr, Fr 20 Uhr, Sa 15.30 und 20 Uhr, So 14.30 und 19 Uhr.

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