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10.11.1989, Berlin: Mit selbstgemalten Plakaten wird dieser Trabi auf der Bösebrücke von den West-Berlinern begrüßt. Nach der Öffnung eines Teiles der deutsch-deutschen Grenzübergänge reisten Millionen DDR-Bürger zu einem kurzen Besuch nach West-Berlin und in die Bundesrepublik Deutschland.

© dpa

Die Wenderomane von Tellkamp, Seiler und Schulze: „Ich war nicht naiv genug, um mir den Herbst 1989 wirklich vorstellen zu können"

Literarische Erinnerung kennt keine festen Termine: Warum die Literatur sich nicht nach Jubiläen wie dem 30. Mauerfalljahr richtet. Ein Kommentar.

Als der Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp vergangene Woche im sächsischen Pulsnitz aus seinem neuen, noch nicht veröffentlichten Roman vorlas, waren darunter Passagen, die kurz vor und kurz nach der Wende spielten, im November des Jahres 1989.

Richtig: Tellkamp dürfte in großen Teilen einen Wenderoman geschrieben haben. Dass Suhrkamp dieses angeblich lange fertige Buch nicht zum 30-jährigen Wendejubiläum im vergangenen Herbst veröffentlicht hat, wurde zuletzt häufig als Beleg für die Unstimmigkeiten zwischen dem Verlag und seinem Autor angeführt. Uwe Tellkamps Roman soll bekanntlich erst im Frühjahr 2021 erscheinen.

Auch Seilers "Stern 111" ist ein Wenderoman

Was dabei außer Acht gelassen wird: Literatur richtet sich nie nach Jubiläen. Gute Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben ihr eigenes Zeitmaß. Bestes Beispiel ist ganz aktuell Lutz Seilers ebenfalls im Suhrkamp Verlag erscheinender, gerade für den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse nominierter Roman „Stern 111“. Der lässt sich getrost ebenfalls als Wenderoman bezeichnen.

Seilers Geschichte führt zeitlich tief ins Ostberlin jener Zeit, der Tage, die auf den 9. November gefolgt sind, aber auch nach Hessen, wohin sich von Gera aus die Eltern des Helden auf den Weg machen.

Warum ist Lutz Seilers Roman nicht schon vor einem halben Jahr erschienen? War er noch nicht fertig? Gab es da auch Probleme zwischen Autor und Verlag? (Nein.) Oder warum hat Ingo Schulze mit seinem Peter-Holtz-Roman eigentlich nicht zwei Jahre gewartet? Der kam schon 2017 heraus und ist, natürlich, auch ein Wenderoman, ein deutsch-deutscher Roman.

Ingo Schulze konnte sich den Herbst 1989 gar nicht vorstellen

Literatur kann keine Rücksicht auf bestimmte Erfordernisse der Zeit nehmen. Überhaupt kann sie nicht stets auf die unmittelbare Gegenwart reagieren, wie das gern mal verlangt wird: Politik! Gesellschaft!

Nein, Literatur braucht selbst Zeit. Sie muss reflektieren, ihre eigenen Schlüsse ziehen. Oder wie es Ingo Schulze einmal in einem Interview gesagt hat: „Ich war nicht naiv genug, um mir so etwas wie den Herbst 1989 wirklich vorstellen zu können.“

Die Fixiertheit auf Jubiläen, auf Jahrestage ist bisweilen von Übel. Bestenfalls wird an etwas erinnert, das nicht in Vergessenheit geraten darf, aber dabei ist, vergessen zu werden. Schlechterdings befördern Jubiläen das Vergessen, dann nämlich, wenn sie wieder vorbei sind. Nur sind Wenderomane nicht deshalb schlechter oder gar überflüssig, weil sie 24, 28 oder 32 Jahre nach der Wende veröffentlicht werden. Erinnerung kennt keine festen Termine.

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