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Dirk Liesemers Buch „Café Größenwahn“: Im Wohnzimmer der Bohème
Das Kaffeehaus der Belle Epoque war Infobörse, geistiger Turnplatz und Nachtasyl zugleich. Dirk Liesemer hat drei dieser Lokale ein Denkmal gesetzt.
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Am dritten Tisch links sollen sie gesessen haben, die Herren Schnitzler, Salten und von Hofmannsthal, aber was heißt hier sitzen? In Dirk Liesemers Hommage an die Kaffeehauskultur der Belle Epoque hält es die Protagonisten selten auf den Stühlen. Als etwa ein gewisser Karl Kraus einmal dem jungen Arthur Schnitzler beschied, er, Schnitzler, verstehe sich darauf, in überlauter Umgebung die „Bescheidenheit des Größenwahns“ zu wahren, retournierte dieser schlagfertig mit Blick auf Kraus: „Wenn man ihn ohrfeigt, ist er beleidigt, wenn man ihn nicht ohrfeigt, nimmt er’s als Bestechungsversuch“.
Die Szene spielt im Café Griensteidl, wo die sogenannten Jungwiener tagten, sie hätte aber auch im Münchner Café Stefanie stattfinden können oder in einem angesagten Künstlertreff am Berliner Ku‘damm, dem Café des Westens. Hier wie dort kam bei einer Melange oder einem geistigen Getränk zusammen, was später zu Ruhm und Ehren gelangen sollte, damals aber noch mit der Erprobung seiner weltgeschichtlichen Rolle beschäftigt war.
Dass alle drei Lokale den Ehrentitel Café Größenwahn verliehen bekamen, dient Liesemer als Metapher für die vielen geistigen und künstlerischen Aufbrüche, die an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert die kaiserzeitliche Behäbigkeit in ihren Grundfesten erschütterte.
Die Geburt einer Epoche aus dem Geist ihrer Avantgarden – als Befund überrascht das wenig. Der Witz des Buchs liegt im Approach: Als hätte es die Zukunft nie gegeben, betreten die Darsteller noch einmal die Bühne, der schnittige Alfred Polgar, die in orientalisierende Gewänder gehüllte Else Lasker-Schüler, der noch gänzlich skandalfreie Frank Wedekind, das ehrpusselig um seine Karriere besorgte Gymnasiastengienie Hugo von Hofmannstahl: „Ich bin unterlobt“.
Manche treibt die Langeweile aus ihren Wohnungen, andere haben das Pech, keine zu besitzen, wieder andere leben erst in Gesellschaft so richtig auf wie der verarmte Fabrikantensohn und „Invalide des Lebens“ Peter Altenberg, der seine Gedichte bei sich bietender Gelegenheit aus der Manteltasche hervorzuzaubern pflegt.
Es ist Zeitgeschichte im Präsens, die der gelernte Reporter Liesemer wie vor laufender Kamera Revue passieren lässt. Kaum haben wir der Wiener Boheme ins Wohnzimmer geschaut, geht es schon weiter ins anarchistische Schwabing und von dort hinauf nach Berlin, wo eine Sensation die andere jagt.
Parallelen zu „1913“ von Illies
Wir folgen Erich Mühsam in seine Reformkommune, sind dabei, wie ein neue Kunstform namens Kabarett aus der Taufe gehoben wird, nehmen Anteil, wenn das zunehmend gestresste Künstlervolk sich am Monte Verità von seinen Exzessen erholt. Nur im Dunst des Kaffeehauses allerdings prallen Denkweisen und Temperamente ungebremst aufeinander, es dient als geistiger Turnplatz, Infobörse und Nachtasyl zugleich, während im Hintergrund ein erster Weltenbrand seine Schatten vorauswirft.
Ähnlichkeiten mit Florian Illies‘ Bestseller „1913“ sind schwer zu übersehen: Hier wie dort bleibt der Autor hinter seinen Fundstücken versteckt, hier wie dort sind es im weitesten Sinn journalistische Verfahren, die der Erzählung Drive und Farbe geben.Vom Atmosphärischen her funktioniert das prächtig: Gekonnt arrangiert die Szenarien, von hoherAussagekraft die O-Töne.
Anything goes, aber bitte auf mein Kommando!
Die Boheme von damals kommentiert sich fortlaufend selbst, wohl keiner alllerdings hat die Gruppendynamik jener Jahre so kongenial eingefangen wie Peter Altenberg mit seiner Hymne auf die Unvermeidbarkeit außerhäusigenTrinkens. „Du findest keine, die Dir passt – Kaffeehaus! Du stehst innerlich vor dem Selbstmord --- Kaffeehaus! Du hasst und verachtest die Menschen und kannst sie dennoch nicht missen --- Kaffeehaus!“
Generell überrascht, wie sehr Gegenwart und Vergangenheit sich ähneln können. Mancher Beef von damals erinnert an heutige Poetry Slams, wer will, kann im Dauergezänk des handelnden Personals bereits die Blasen des Social-Media Zeitalter heraufdämmern sehen: Anything goes, aber bitte auf mein Kommando!
Man möchte nicht aufhören, sich am Zitatenfundus einer in immer blütenreicheren Varianten heraufziehenden Moderne zu bedienen, nicht zuletzt beim anonymen Schildermaler eines im Hinterzimmer des Weinlokals „Zum Vesuv“ beheimateten Berliner Kabaretts, das seine Kundschaft mit einem Schüttelreim empfing: „Zu hören krauser Künste Flug, ist eine Mark ja schon genug“. Schön gesagt, doch was als Sittengemälde überzeugt, bleibt insgesamt hinter den Möglichkeiten zurück.
Da wäre zum einen der großzügige Umgang mit dem Material. Liesemer erzählt munter drauflos, ohne kenntlich zumachen, welche Passage er jeweils woher bezieht. Es mag auch nicht von Schaden sein zu erfahren, dass der Kellner im Café des Westens Richard hieß und rote Haare hatte oder dass der Mokka im Griensteidl in zwanzig Schattierungen von Braun serviert wurde, doch will man es wirklich so genau wissen?
Beeindruckende Detailfülle
Wie viele Neuerscheinungen aus dem Bereich populäres Sachbuch setzt auch Liesemers Kaffeehausreport auf eine Leserschaft, die Geschichte auf unterhaltsame, aber nicht allzu fordernde Weise präsentiert bekommen möchte. Das ist legitim, aber oft nur in Maßen erkenntnisfördernd.
Vor allem jedoch ist es das Verfahren selbst, das auf Dauer an Grenzen stößt. So weit der Erzählhorizont auch gespannt ist, so beeindruckend die Detailfülle, mit der man versorgt wird, welche Kräfte dafür verantwortlich sind, dass Europa wenig später in einem Weltkrieg versinkt, bleibt am Ende so offen wie die Frage, was es mit dem titelgebenden Größenwahn auf sich hat. Ein Leitmotiv ist eben nicht mehr als ein Leitmotiv, und aneinandergereihte Impressionen allein ergeben noch keine Diagnose. Eines zumindest wird klar: Mit rein erzählerischen Mitteln lässt eine Epoche sich darstellen, aber nicht begreifen.
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