
© Alexander Gurzhy/Edition Frölich
DJ Boruch und die Boombox : Erinnerung an meinen Großvater in Charkiw
Der Musiker und Autor Yuriy Gurzhy bringt ein Buch mit Texten über seine Heimatstadt Charkiw heraus. Die Bilder darin stammen von seinem verstorbenen Vater. Wir veröffentlichen ein Kapitel vorab.
Stand:
Ein herrlich-sonniger Tag im Jahr 1979, ich bin gerade einmal vier Jahre alt und halte ein rotes Fähnchen in der Hand. Kehren mein Großvater und ich von einer Demonstration zurück? Eine Konstellation, die irgendwie unwahrscheinlich klingt.
Vielleicht hat man die Fähnchen im Kindergarten verteilt, in der Hoffnung, uns Kinder schon früh für „Lenins Sache“ zu begeistern? Ein Plakat mit der Aufschrift „Lenins Sache sind wir treu“ hing im Schlafraum unserer Kita, und weil ich oft mittags nicht schlafen wollte, starrte ich es an und überlegte, was das wohl sein könnte, diese „Lenins Sache“.
Gemeinsam mit dem Opa schlendere ich die Straße des 23. August entlang. Wer nicht aus Charkiw kommt, stolpert immer über diesen Namen. Dann muss man erklären: Auf diesen Tag geht die Vertreibung der Nazis aus Charkiw zurück. Gemeint sind das Jahr 1943 und die deutschen Nazis – das sollte man heutzutage präzisieren, denn das Land ist gerade wieder im Krieg, diesmal wird aber gegen die russischen Nazis gekämpft.
Fünf Menschen in einer Plattenbauwohnung mit drei Zimmern
Es dauerte eine Weile, bis mir auffiel, was auf diesem Bild fehlt: das Denkmal des Befreiers. Ich hatte geglaubt, es sei schon immer da gewesen, doch „der Soldat“, wie wir ihn nannten, wurde erst 1981 errichtet – ein Stück links von dem Plattenbau im Hintergrund.
Dahinter standen zur Freude aller Jungs aus der Nachbarschaft zwei riesige Kanonen, auf denen wir herumkletterten und von denen wir natürlich dachten, sie würden eines Tages doch noch abgefeuert werden. Die Enttäuschung war groß, als uns die Erwachsenen erklärten, dass sie schon lange nicht mehr funktionierten.
Im vorderen Plattenbau, im sechsten Stock lebten meine Großeltern, meine Eltern und ich. An sich war die Wohnung mit ihren drei Zimmern nicht gerade klein, aber für fünf Menschen war sie doch etwas zu eng.
Meine Mutter erinnert sich genau an jede meiner Kinderkrankheiten. Am Telefon zählt sie sie mir auf: „Okay, erst mal die schlimmen: Pseudokrupp – zwei Mal! Scharlach! Blinddarmentzündung! Hepatitis A! Arrhythmische Myokarditis! Und jedes verfluchte Mal war es an einem sowjetischen Feiertag, du kleiner Dissident!“ Inzwischen kann sie darüber lachen.

© Alexander Gurzhy/Edition Frölich
Der Kindergarten wartete oft vergeblich auf mich; ich hing zu Hause mit den Großeltern rum. Mein Opa hat mir weder vorgelesen noch den Fernseher mit den Zeichentrickfilmen eingeschaltet – er war mein persönlicher DJ mit seinem neuen, glänzenden JVC-Kassettenrekorder.
Erst viel später, als ich die Plattencover der frühen Hip-Hop-Klassiker bestaunte, fiel mir auf: Mein sechzig Jahre alter Großvater besaß eine typische Boombox. Mit solchen Geräten posierten die Rap-Pioniere aus der Bronx Anfang der 1980er-Jahre. Manchmal, wenn ich diese Bilder sehe, versuche ich mir vorzustellen, wie der Opa zwischen Afrika Bambaataa und Grandmaster Flash ausgesehen hätte.
Das passende Accessoire hatte er auf jeden Fall. Durch seine Hautfarbe und sein Alter wäre er natürlich auf solchen Fotos aufgefallen, dazu noch Hornbrille und Glatze. Ich fürchte, als Rapper wäre er nicht infrage gekommen. Als DJ und Produzent dagegen hätte er sicher größere Chancen gehabt. In solchem Fall bräuchte er natürlich ein cooles Pseudonym, als Boris Rywkin wäre kein Hip-Hop-Künstler weit gekommen.
Mein Opa war Zahnarzt, aber seine Liebe galt der Musik
Dass unsere Familie jüdisch ist, erfuhr ich erst mit sieben Jahren, und es dauerte noch länger, bis ich den wahren Vornamen meines Großvaters herausfand. In seinem Pass stand zwar Boris, aber in Wirklichkeit hieß er Boruch.
Er kam nach der Oktoberrevolution zur Welt, und da erfahrungsgemäß in Krisenzeiten die Juden oft zu Sündenböcken werden, russifizierten seine Eltern den Namen des Kindes, für den Fall der Fälle. Wie auch immer sein Leben verlaufen würde, Boris Alexandrowitsch hätte es viel leichter gehabt als Boruch Schajewitsch, so viel war klar. (Andererseits hätte Boruch als DJ-Name perfekt funktioniert. Sugarhill Gang & DJ Boruch, DJ Jazzy Jay vs. DJ Boruch – das klingt doch legendär!)
Als junger Mann spielte er Geige und wollte Musiker werden, doch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs musste er vor den Nazis fliehen, und irgendwo auf dem Weg nach Taschkent, wo er schließlich landete, wurde seine Geige gestohlen.
Nach dem Krieg wurde er Zahnarzt, aber die Musik blieb seine große Leidenschaft. Er besaß Hunderte von Kassetten und Schallplatten, die er bei jeder sich bietenden Gelegenheit seinem Publikum, das hauptsächlich aus den Familienmitgliedern bestand, vorspielte (und die Lautstärke der Boombox trieb meine Großmutter und meine Mutter in den Wahnsinn).
Ungeschickte Lügen und abwechslungsreiche Mixtapes
Meinen Großvater habe ich als einen sehr vorsichtigen Menschen in Erinnerung. Ich glaube, er hatte immer Angst. Als im Januar 1953 in der Prawda ein Artikel erschien, in dem es über die perfide Absicht einer jüdischen Ärztebande ging, Stalin und seine Parteigenossen zu vergiften, drückte der Chefarzt der Poliklinik, in der mein Opa damals arbeitete, ihm die Zeitung in die Hand und forderte ihn auf, den Artikel in der Mitarbeiterversammlung vorzulesen. Der Großvater stotterte, öffentliches Vorlesen gehörte offenbar nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.
Den Kollegen von diesem teuflischen Komplott zu berichten, war auch deshalb eine Tortur, weil jeder Jude sofort spürte: Das war der Beginn einer antisemitischen Kampagne – und ein Jude, der dazu noch ein Arzt war, wusste es am besten. Kurz nach Stalins Tod im März wurde die Kampagne schnell eingestellt, als hätte es sie nie gegeben; alle Inhaftierten wurden freigelassen, aber die Angst blieb.

© Alexander Gurzhy/Edition Frölich
Ich glaube, es war diese Angst, die ihn dazu trieb, mir gegenüber so ungeschickt zu lügen – er weigerte sich kategorisch, den Kassettenrekorder als seinen eigenen zu bezeichnen, und sprach stattdessen von Freunden, die ihn gebeten hätten, während ihrer Dienstreise darauf aufzupassen. Monate und Jahre vergingen, ohne dass sie zurückkehrten. Es muss eine sehr lange Dienstreise gewesen sein.
Mein Großvater wollte offensichtlich nur vermeiden, dass ich mit dem teuren japanischen Gerät im Hof angebe. Dass nicht plötzlich die halbe Nachbarschaft bei uns auftaucht, um das technische Wunder zu bestaunen und die westliche Musik zu hören. Denn so hätten sie auch unser großes Geheimnis entdecken können – und das durfte auf keinen Fall passieren.
Niemand durfte wissen, dass in unserer Wohnung eine kleine illegale Zahnarztpraxis betrieben wurde. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist der Flur, in dem zwei, drei Patienten warteten, während in Opas Zimmer jemand mit weit geöffnetem Mund auf dem umgebauten Stuhl saß und Oma oder Opa mit dem Dentalbohrer um ihn herumschwirrten. Als die Patienten weg waren, wurde der Stuhl wieder auseinandergenommen, die Pinzetten, Zangen und der Rest wurden weggeräumt, und die Boombox wurde herausgeholt.
In meinem Studio habe ich heute noch einen Stapel von Opas Mixtapes – gewissermaßen aus der Not geboren, denn hochwertige Kassetten waren teuer und nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Um kein Band zu verschwenden, nahm mein Großvater daher nie ganze Alben auf, sondern pickte stets nur die besten Stücke heraus. Diese Kassetten zeugen von seinem eklektischen Musikgeschmack – Hammondorgel, Tango, Italo-Disco, die Barry Sisters und Dschinghis Khan, und jedes Mal, wenn ich darauf stoße, amüsiere ich mich über die Tracklisten.
Das war nicht immer so: Als ich mit dreizehn Jahren die Rockmusik für mich entdeckte, konnte ich mit diesem Eklektizismus nichts anfangen. Alles, was keine verzerrten Gitarren hatte, nervte mich – der Sound des Bohrers auch.
1988 bekamen meine Eltern endlich eine Wohnung, in die sie, meine dreijährige Schwester und ich einzogen. Ich bekam ein eigenes Zimmer mit Balkon. Das war endlich unser eigenes Zuhause, bis wir sieben Jahre später nach Deutschland auswanderten. Und obwohl ich dort meine ziemlich wilde Zeit als Teenager erlebte, zieht es mich nie dorthin, wenn ich nach Charkiw komme.
Stattdessen lande ich immer wieder in der Straße des 23. August. Ich stehe vor unserem alten Haus und frage mich, was ich hier eigentlich suche – und warum ich immer noch keine Antwort darauf habe.
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