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 „Averroès & Rosa Parks“ legt den Fokus auf die Therapiegespräche in den psychiatrischen Kliniken, unterbrochen von kurzen Impressionen der Innenhöfe und Flure.

© Grandfilm

Doku über Menschen in der Psychiatrie: Die Kunst, einander zu verstehen

Nach dem Goldenen Bären für „Auf der Adamant“: Nicolas Philiberts zweiter Dokumentarfilm über Menschen mit psychischen Handicaps, „Averroès & Rosa Parks“.

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Olivier möchte gern wieder seine Familie um sich haben. In den Fluren der Klinik hat er seinen Vater wiedergesehen, sogar seinen Großvater, obwohl beide schon tot sind. Er habe drei Töchter, sagt er – und meint die Kinder von Verwandten und Freunden.

Oder Monsieur Obadia. Eigentlich soll gerade geklärt werden, ob der Patient probehalber in eine Pflegefamilie umzieht. Er legt erstmal seine persönliche Deontologie und „psychopädagogische“ Welt dar. Es geht um Gesellschaftsrecht und Privatrecht, Freiheit und Kontrolle, darum, ob Liebesbeziehungen in der Psychiatrie erlaubt sind.

Oder die alte Laurence. Früher hat die Kettenraucherin als Buchillustratorin gearbeitet, sie ist in der Welt herumgekommen. Jetzt fühlt sie sich jede Nacht lebensbedrohlich verfolgt und wütet gegen ihren Betreuer, weil der nichts daran ändert.

Sie alle sind Patienten der Abteilungen Averroès und Rosa Parks (benannt nach dem arabisch-andalusischen Philosophen und der US-Bürgerrechtlerin) im Pariser Südosten. Die Hospitäler, deren Anlage sich aus Drohnenperspektive wie die eines Gefängnisses ausnimmt, gehören zum Psychiatrien-Verbund Esquirol, der auch die Adamant betreibet, eine schwimmende Tagesklinik auf der Seine.

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Auf dem Schiff hatte der Dokumentarfilmer Nicolas Philibert den ersten Teil seiner Trilogie über Menschen mit psychischen Handicaps gedreht, bei der Berlinale 2023 gewann er dafür den Goldenen Bären. Für den zweiten Teil hat er einige der Protagonisten nun dort aufgesucht, wo sie derzeit leben, und mit der Kamera Einzel- und Gruppengespräche aufgezeichnet.

In „Averroès & Rosa Parks“ sehen wir Menschen beim Reden zu, beim wilden oder langsamen Denken, beim Schweigen, beim Zuhören, beim Ringen um Verständigung. Es sind oft asymmetrische, sprunghafte Gespräche, unterbrochen nur durch kurze Impressionen der Innenhöfe und Klinikflure. Innenwelt und Außenwelt passen nicht zusammen bei dem Paranoiker, der olfaktorische Halluzinationen fürchtet, bei der selbstmordgefährdeten jungen Frau oder dem Burn-out-Akademiker und Geschwindredner Noé, der versichert, er sei seinem eigenen Größenwahn gewachsen.

Die Psychiater widersprechen nicht, rücken nicht zurecht. Sie wollen Traumata, Verletzungen und Ängste begreifen und gemeinsam Auswege finden aus dem Labyrinth der Verstörung, das manchmal eine Hölle ist.  

Was bedeutet es, sich gut zu fühlen, will ein Betreuer wissen. Wie kann es gehen, dass wir angesichts der personellen Unterbesetzung nicht nur „Pillen nach Plan“ verabreicht bekommen, fragt eine Patientin. Wie schon im Dokumentarfilm „Auf der Adamant“, der die kreativen Fähigkeiten der Tagesklinik-Besucher in den Fokus rückte (was gelegentlich an eine Freakshow grenzte), stellt Philibert keine Zusammenhänge her, erhellt keine Biografien, analysiert nicht die Defizite des Gesundheitssystems.

Aber die Gesellschaft, die Menschen überfordert und mit deren Betreuung selbst überfordert ist, lässt sich dennoch erahnen. Gerade weil der 73-jährige Dokumentarmeister („Im Land der Stille“, „Sein und Haben“) nichts kommentiert und sich ganz auf die Gesichter, die Mimik, die Sprache, die Dialoge konzentriert. Die Geduld, die Ärzte und Betreuer aufbringen, verlangt er auch den Zuschauern ab. Schon das erste Gespräch, das mit Monsieur Obadia, nimmt mehr als eine Viertelstunde des 144-Minuten-Films ein.

Am Ende ist Laurence erneut mit ihrem Psychiater zu sehen, sie hat einen Brand ausgelöst und schwere Verbrennungen erlitten. „Danke, dass Sie sich um mich gekümmert haben“, sagt sie mit rasselndem Atem. Aber es ist nicht ihr letztes Wort: Er habe sie vergessen, fügt sie hinzu.

Es passt gut, dass „Averroès & Rosa Parks“ gerade jetzt in die deutschen Kinos kommt, wo alle Welt auf die Olympioniken in Paris blickt. Philibert entreißt jene dem Vergessen, die keinen Platz haben im Raster der Schnellen und Tüchtigen.

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